Dekolonialisierung der Phantastik: Kolonialismus & Sexualität – Teil 2

Text

Es ist Pride Month, weshalb ich auch im Rahmen von „Dekolonialisierung der Phantastik“ über das Thema Sexualität reden möchte. Während wir am Dienstag über Sexualität im historischen Rahmen des Kolonialismus gesprochen haben, geht es heute um den Einfluss der Geschichte auf die Phantastik.

Dieser Beitrag ist aus meiner Reihe „Dekolonialisierung der Phantastik“, die sich mit dem Einfluss kolonialistischer Denkweisen und Philosophien auf die phantastischen Medien beschäftigt. Mehr zu der Reihe – sowie eine Übersicht der bisherigen Beiträge – findet ihr im einführenden Beitrag.

Disclaimer: Ich schreibe diese Reihe als eine weiße, queere, nicht-binäre Person. Ich kann daher nicht in allen Aspekten als Own Voice fungieren. Zudem bin ich kein Historiker, sondern beschäftige mich nur als Hobby mit der Geschichte des Kolonialismus – und auch der Geschichte queerer Identitäten.

Koloniales Erbe

Wie bereits am Dienstag angedeutet, hat der Kolonialismus bis heute einen großen Einfluss auf unseren Umgang mit der Sexualität. Zwar wurde viel von diesem Umgang nicht zwangsweise aus dem Kolonialismus heraus geboren, doch half der Kolonialismus diese kulturellen Vorstellungen in unserer Gesellschaft zu verfestigen.

Auch bestimmte Tropes, die dem Kolonialismus entstammen – unter anderem die Sexualisierung des „Exotischen“ – haben bis heute einen großen Einfluss auf die Phantastik. Tatsächlich sind viele davon nicht dem Genre eigen, sondern nur eine Erweiterung der breiten Medienlandschaft.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir sie nicht im Kontext der Phantastik hinterfragen können oder sollten. Was sagen sie über unsere Gesellschaft und wie wurden sie geprägt? Auch, um aus der Endlosschleife, in der man leicht solche problematischen Tropes reproduziert, herauszukommen.

Dabei sei gesagt, dass viele Tropes, die ich anspreche, schon häufig im feministischen und queeraktivistischen Rahmen diskutiert wurden. Dennoch sind viele davon problematisch genug, um immer wieder besprochen zu werden.

Sex Negativität

Das erste Problem ist kein Klischee, sondern eine allgemeine Einstellung, die unsere Gesellschaft auf jeder Ebene beherrscht: Sexuelle Negativität. (Zu diesem Thema gibt es hier bereits einen ganzen Beitrag.) Dieser Begriff wurde von dem Österreicher Wilhelm Reich in den 1920ern geprägt und beschreibt einen gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität, der unterdrückt und reguliert. Dabei bezieht er sich nicht nur auf die Unterdrückung von Homo-, Bi- und Asexualität, sondern auch auf die mit Kinks und Fetischen verbundene Scham und den gesellschaftlichen Druck zu monogamen Beziehungen. Reich betrachtete sexuelle Negativität als ein gesellschaftliches Mittel, um sowohl den Kapitalismus als auch das Patriarchat aufrechtzuerhalten. Aus einer post-kolonialen Perspektive kann man ergänzen, dass sie ebenso genutzt wird, um koloniale Machtverhältnisse weiterhin zu stützen.

Sexuelle Negativität ist als Denkweise in unserer Gesellschaft so allgegenwärtig, dass es vielen schwer fällt, sexuelle Positivität überhaupt zu begreifen. Das bedeutet, dass in der Phantastik die meisten Welten auf sexuell negativen Denkweisen aufbauen und dies als eine natürliche Standard-Philosophie angenommen wird. Selbst, wer versucht eine Gesellschaft zu bauen, die Sexualität nicht unterdrückt, neigt schnell dazu ins Gegenteil auszuarten und Kulturen zu bauen, die so „pro Sex“ sind, dass erneut freie Entfaltung der eigenen Sexualität in den Hintergrund rückt. Stattdessen haben wir auf einmal Gesellschaften, in denen alle Sex haben müssen – was ebenfalls nicht sexuell positiv ist.[

Koloniale Schönheitsideale

Ein Thema, das auf Twitter immer wieder aufgebracht wird, sind Schönheitsideale. Auch in der Phantastik sehen wir diese immer wieder. Die meisten Held*innen sind weiß, schlank/athletisch, jung und traditionell hübsch. Etwaige romantische und sexuelle Partner*innen sind ebenfalls meist weiß, schlank/athletisch, jung und traditionell hübsch. In der Phantastik geht es so weit, dass es ganze Spezies gibt, die permanent diese Eigenschaften haben – egal, ob diese Elfen, Vampire oder irgendwelche Alien-Spezies sind.

Sollte es einmal so sein, dass ein*e Held*in oder ein Love Interest eines davon nicht sind, wird häufig betont, dass sie trotzdem heldenhaft oder liebenswert sei. Als wäre ein nicht den üblichen Schönheitsidealen entsprechendes Aussehen etwas, das einen Einfluss auf Mut, Fähigkeit oder Liebenswürdigkeit hätte.

Wie gesagt: Viele dieser Schönheitsideale entstammen dem Kolonialismus oder sind eine Folge von kolonialistischen Schönheitsidealen. Dies ist in Bezug auf blasse Haut und helle Haarfarben selbsterklärend, wahrscheinlich auch für Gesichtsformen. Aber selbst Dinge wie Körperformen sind dadurch beeinflusst, welche Körperformen in welchen Gegenden üblicher waren.

Richtig seltsam wird es in der Phantastik, wenn in fiktiven Welten ohne dieselben Voraussetzungen dieselben Schönheitsideale gelten. Zum Beispiel, wenn bei einem Franchise wie Star Wars ein nicht-humanoider, nicht-binärer Alien wie Jabba, der Hutt, humanoide Frauen als Sklavinnen halten will. Wieso? Wieso entspricht dieses Erscheinungsbild auch Schönheitsideals eines solch anderen Aliens?

Einseitige Geschichtsbilder

Schönheitsideale werden gerne auf historisch andere Zeiten übertragen, auch wenn diese Ideale andere waren zu der inspirierenden Zeit. Dies ist ein Aspekt von einem verzerrten Geschichtsbild, wie wir es häufig in der Phantastik finden.

Wie schon gesagt, ging mit dem Kolonialismus ein ganzes Stück historischer Revisionismus einher. Beispielsweise, wenn es um die Darstellung vergangener Zeiten in Bezug auf Themen wie Sexualität anging. Dieser Revisionismus war nicht allein der kolonialen Mechaniken geschuldet, sondern auch in anderen historisch kulturellen Entwicklungen begründet, die sich während dem Zeitalter des Kolonialismus entwickelten.

Deutlich zeigt sich dies in Darstellungen des Mittelalters. Oftmals scheint es, als würde Fantasy hier nur zwei Darstellungen kennen: Entweder ist es eine Welt, in der es praktisch nur Sex in der Ehe gibt. Oder es ist eine Welt, in der es wild getrieben wird und sexuelle Gewalt (meist von Männern gegen Frauen) allgegenwärtig ist und selten bestraft wird. Eines haben beide Szenarien gemeinsam: Queere Identitäten werden unsichtbar gemacht.

Phantastik und Prostitution

Wenn wir schon beim Thema Gewalt und Sexualität sind, müssen wir über die Darstellung von Prostitution in der Phantastik reden. Auch hier spielt Gewalt in den meisten Darstellungen hinein – und das ist nicht das einzige Problem.

Beim Thema Prostitution kommen die soweit angesprochenen Probleme alle zusammen. Prostituierte entsprechen meistens einem bestimmten Schönheitsideal, sind beinahe immer Frauen (und die Kunden fast durchweg Männer) und nicht selten wird Gewalt im Kontext von Prostitution normalisiert. Dabei ist es egal, ob sie in einem Steampunk-Setting, in einer Taverne einer tolkienesquen Welt oder auf dem Planeten Beta-12 stattfindet.

Fast alle Prostituierten sind menschlich oder zumindest humanoid. Kommen einmal Prostituierte vor, die nicht humanoid sind, wird daraus häufig ein Witz gemacht. (Wobei die wahre Frage ist, warum nicht-humanoide Spezies offenbar keine Prostitution zu haben scheinen und warum in einer Welt, wo nicht-humanoide Spezies existieren, es keinen Fetisch für diese gibt.)

Wirklich problematisch ist vor allem das Gewaltnarrativ. Laut diesem sind alle Frauen, die sich prostituieren (wie gesagt, männliche Prostituierte sieht man selten), entweder durch Gewalt oder durch Armut dazu gezwungen worden. Fast immer gibt es einen brutalen Zuhälter, brutale Freier oder notfalls einen brutalen Ehemann, der sie dazu zwingt. Das heißt: Solange die Geschichte genug Gedanken an die Prostituierte verschwendet.

Sexualität als Horror

Über Sexualität in der Phantastik können wir nicht sprechen, ohne das Horror-Genre und seinen Bezug zur Sexualität anzusprechen. Denn Bezug zu Sexualität gab es im Horror seit jeher, und das auf verschiedenste Art und Weise. Diese Bezüge waren bereits zu Zeiten der ersten Schauerromane vorhanden.

Werwolf und Vampir sind die offensichtlichsten Beispiele. So stand der Werwolf – ein Mensch, der so komplett seinen Instinkten erlegen ist, dass er sich in ein Tier verwandelt – oft metaphorisch für einen Vergewaltiger. Wie übrigens auch der „große böse Wolf“ in verschiedenen Märchen. Der inhärente Horror einer Vergewaltigung legt eine Darstellung als Monster nahe.

Vampire dagegen standen häufig für verbotene, aber einvernehmliche Sexualität. Sei es außerehelich oder homosexuell oder auf andere Art von einer vermeintlichen „Norm“ abweichend. Sei es ein Dracula, der Lucy mit dem Reiz des Verbotenen zu sich lockt und Jonathan als „sein“ bezeichnet, sei es eine Carmilla oder eine Tochter Draculas, die Frauen verführt.

Sexualität ist häufig ein Aspekt von verschiedenen Horrorgeschichten, egal ob Roman oder Film. Auch unabhängig von Werwölfen haben wir nicht selten Metaphern für Vergewaltigungen oder einfach nur Sex, während positiv konnontierte Sexualität selten eine Rolle spielt. Damit spiegelt das Genre häufig eine eher sexuell negative Einstellung wider.

Das homosexuelle Monster

Allerdings gibt es eine Komplikation. Nicht selten sind es in Horror am Ende die Monster, die die eigentliche Aufmerksamkeit und teilweise Sympathie erhalten. Dies ist kein Zufall, denn zu homosexuellen oder homosexuell kodierten Antagonist*innen oder Monstern, hat Horror ebenfalls eine lange Geschichte.

Dies lag zum einen daran, dass viele frühe Horror-Autor*innen selbst dem LGBTQ*-Spektrum zuzuordnen waren. Das bekannteste Beispiel dürfte Oscar Wilde sein, der relativ offen seine Homosexualität gezeigt hat und die in „Das Bildnis des Dorian Grey“ hineinspielte. Aber gerade für nicht offen lebende Autor*innen waren die Monster eine Möglichkeit, das eigene Fremdheitsgefühl in der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Wir wissen nicht bei allen frühen Monstern, inwieweit es beabsichtigt war, doch eine queere Leseweise ist für so ziemlich jeden Horror-Klassiker möglich.

Allerdings gibt es eine weit dunklere Seite des queer-kodierten Horrormonsters. Leider war das Genre, gerade in den Filmen, von Hays Code beeinflusst. Dieser sah vor, dass Homosexualität als schlecht kodiert sein muss. Deswegen wurde es zu einer stereotypen Abkürzung in Filmen, die später auch in andere Medien übertragen wurde: Bösewichte oder Monster sind implizit oder explizit queer. Womit Queerness und implizit auch queerer Sex dämonisiert wurde.

Der Hays Code ist eine Ausgeburt der kirchlichen, aber auch amerikanischen Sexualmoral des frühen 20. Jahrhunderts – und damit durch die konservativen Auswüchse der Kolonialzeit beeinflusst gewesen.

Sex muss betraft werden

Eine Sache war vor allem in Horrorfilmen der 1980er und 1990er häufig und hat sich teilweise bis heute gehalten: Die Strafe für Sexualität.

Ein Klischee in vielen Slasher-Horror-Filmen war, dass diverse Charaktere – nicht selten Teenager – im Verlauf des Films Sex hatten oder versuchten Sex zu haben, um prompt vom Axtmörder überrascht zu werden. Der dann oft folgende graphische Tod war entsprechend eine Strafe für sexuelles Verhalten. In manchen Filmen ist es sogar explizit, dass der Axtmörder gezielt sexuell aktive oder neugierige Jugendliche jagt.

Hier spielt etwas aus dem Beitrag über Geschlechter hinein: Meist ist der Charakter, der am Ende überlebt und dem Axtmörder den Garaus macht, ein braves Mädchen, das sich nicht zu Sexualität verführen lässt. Spezifisch bei Mädchen oder Frauen unterscheiden diese Horrorfilme gezielt in die „braven“ und die, die Sex haben. Meistens werden zweitere auf weit brutalere Art getötet als ihre männlichen Partner.

Entsprechend hat das Genre nicht nur ein Problem mit ausgelebter Sexualität, sondern spezifisch ausgelebter weiblicher Sexualität.

Heteronormativität

Von der Darstellung von Sexualität im Horror einmal abgesehen, haben wir in allen phantastischen Genres das Problem, wie in den meisten anderen Medien auch: Heteronormativität. Die meisten Figuren in der Phantastik sind cis, binär und heterosexuell. Mehr noch: In den meisten Fantasy- und Science-Fiction-Werken ist Heterosexualität genauso normalisiert, wie es leider in der realen Welt ist.

„Natürlich“, mag jetzt der ein oder andere sagen, „aber so werden immerhin Kinder gemacht! Mann und Frau! Duh!“ Aber ich verrate euch etwas: In Fantasy und Science Fiction muss es nicht so sein.  Fantastische Wesen können sich auf jede beliebige Art und Weise fortpflanzen. Vielleicht pflanzen sie sich homosexuell fort. Vielleicht braucht es genau vier Personen, um ein Kind zu zeugen. Vielleicht kann jedes beliebige Paar ein Kind zeugen, da dies auf magische Art und Weise geschieht. Und auch die Science Fiction kann jede Art von Sexualität beinhalten. Sei es bei Alien-Spezies, die sich anders fortpflanzen, oder dank futuristischer Methoden.

Davon abgesehen waren nicht alle Kulturen hetero- und mononormativ, wie wir es kennen. Ja, bei Menschen ist es so, dass nur Sex, der auf der einen Seite Penis und Hoden, auf der anderen Uterus und Eierstöcke beinhaltet (was nicht automatisch heterosexueller Sex sein muss), Kinder zeugen kann. Aber das heißt nicht, dass die Kultur darum aufgebaut sein muss, dass die entsprechenden Personen Kinder großziehen.

Auch hier gilt: Die Phantastik bietet viele Freiheiten, Sexualität (und auch Beziehungen) auf unterschiedliche Arten darzustellen. Doch statt diese Freiheiten zu nutzen, ist es leider zu oft der Fall, dass in kolonial geprägte, heteronormative Muster verfallen wird, ohne das „Warum“ zu hinterfragen. Insofern: Hinterfragt unseren Umgang mit Sexualität. Und traut euch mehr in euren eigenen Werken.[

Quellen & weiterführende Texte:

  • Vito Russo: The Celluloid Closet
  • Raymond Murray: Images in the Dark: An Encyclopedia of Gay and Lesbian Film and Video
  • Nina Auerbach: Our Vampires, Ourselves
  • Chris Holmund, Cynthia Fuchs: Between the Sheets, in the Streets: Queer, Lesbian, and Gay Documentary (Essaysammlung)

Videos


Das Beitragsbild stammt von Unsplash.