Dekolonialisierung der Ernährung

Im Rahmen von Dekolonialisierung der Phantastik habe ich hier bereits recht ausgiebig über Kolonialismus und seine politischen Folgen gesprochen. Doch es gibt noch viele andere Bereiche, die vom Kolonialismus beeinflusst wurden – einer davon ist die Ernährung. Denn auch diese wurde kolonialisiert. Mit Folgen, die bis heute anhalten.

Auf dem Tisch…

Es ist nicht so, als würden wir nie darüber sprechen, wie unsere Ernährung beeinflusst wurde – doch selten machen wir es unter dem Gesichtspunkt der Kolonialisierung. Stattdessen ist es meistens so, dass wir darüber sprechen, wie die Globalisierung unser Verhältnis zum Essen verändert hat. Ein wichtiges Thema, über das wir hier in zwei Wochen ebenfalls reden werden. Doch das eine kann nicht ohne das andere gedacht werden.

Sehen wir uns unsere Ernährung an, so finden wir viele Dinge, die nicht Europa entstammen. Wir essen Mais, Tomaten, Paprika, Chili, Bananen und vieles mehr, das ursprünglich nicht aus unseren Breitengraden stammt. Lebensmittel, die erst im Rahmen des Kolonialismus nach Europa importiert wurden. Doch das ist nicht alles, was mit diesen Lebensmitteln geschehen ist. Denn wie wir alle wissen: Diese Lebensmittel haben häufig wenig mit ihren ursprünglichen Versionen gemeinsam. Und ja, auch hier ist eine Menge kulturelle Wertung enthalten.

Denn letzten Endes ist im Rahmen der Kolonialisierung eine Menge passiert, wobei wir nicht nur kulturell wichtige Früchte ausgelöscht haben – sondern auch das Europäische Verhältnis zu den eigenen Lebensmitteln zerstört. Doch fangen wir von Anfang an…

Die Macht des Essens

Wisst ihr, warum es außerhalb von Thailand erstaunlich viele Thai-Restaurants gibt – vor allem in den USA? Aus dem einfachen Grund, dass Thailand diese Restaurants als Form von Diplomatie verwendet. Man sagt immer „Liebe geht durch den Magen“, doch wenn man sich internationale Politik ansieht, so sieht man, dass dies noch viel mehr umfasst. In der sogenannten „Gastrodiplomatie“ versteht man diplomatische Einflussnahme auf andere Länder durch Essen. Das kann auf großer Ebene passieren – immerhin werden Politiker*innen beim Auslandsbesuch häufig auf lokale Spezialitäten eingeladen und zeigen ihre Anerkennung für diese anderen Länder durch das Essen dieser Spezialitäten. Gleichzeitig versuchen diverse Länder – vor allem Thailand – sich und ihre Kultur besonders positiv durch das Unterstützen von Restaurants im Ausland darzustellen.

Essen ist eine Möglichkeit Zugang zu einer anderen Kultur zu bekommen und für diese Kultur eine Möglichkeit sich selbst positiv zu präsentieren. Etwas, das wir am Ende auch innerhalb in Europa sehen. Denn seien wir ehrlich: Pizza und Pasta sind einer der Gründe, warum viele Leute eine positivere Einstellung zu Italien haben, als zu diversen anderen Europäischen Ländern.

Allerdings sehen wir die Macht des Essens auch in anderen Bereichen. Denn Essen ist auch innerhalb von einer Kultur häufig eine Einflussreiche Sache. Es ist einer der Gründe warum manche Länder die Lebensmittelgrundversorgung ihrer Bevölkerung versuchen sicher zu stellen. Aber wir sehen es nun einmal auch darin, wie Essen häufig mit Klasse in Verbindung gebracht wird – und nicht selten auch Grundlage von Klassismus sind.  Auch dies ist eine Sache, die bereits immer schon ein Thema war. Vor allem in Europa – und genau da kommt der Kolonialismus ins Spiel.

Kolonialisierung des Essens

Wie wir wissen gingen die ersten Schritte der Kolonialisierung von Spanien aus. Spanien, wo Essen gleich eine doppelte Bedeutung zu dieser Zeit hatte. Denn neben üblichen Wertungen von Ernährung (bspw. dass Wurzelgemüse als Nahrung der Armen galt) war es auch so, dass speziell Schweinefleisch hier bereits mit Antisemitismus und Antiislamismus in Verbindung gebracht wurde. Denn wir dürfen nicht vergessen: Spanien war gerade erst von den Mohren „zurückgewonnen“ worden und man versuchte die Muslime aus dem Land zu vertreiben, bzw. diese systematisch zu ermorden. Deswegen galt der Konsum von Schweinefleisch als „Reinheitsmerkmal“. Doch dazu gleich mehr.

Ernährung vor der Kolonialisierung

Vielleicht sollten wir kurz darüber sprechen, was in den Amerikas vor der Kolonialisierung gegessen wurde. An dieser Stelle dürfen wir eine Sache nicht vergessen: Die Amerikas waren riesig und hier lebten mehrere hundert unterschiedliche Kulturen. Sie umfassen verschiedene Klimazonen und deswegen auch unterschiedliche Früchte, die angebaut werden konnten. Deswegen ist alles, was ich an dieser Stelle sagen kann, immer verallgemeinernd!

In den Amerikas gab es kein Getreide. Der Hauptlieferant von Kohlenhydraten waren verschiedene Maissorten, die fast überall auf den Kontinenten angebaut wurden. Hier sei eine Sache deutlich gesagt: Es waren unterschiedliche Maissorten. Der Zuckermais, wie wir ihn heute kennen, ist eine sehr neue Züchtung. (Gleich dazu mehr.) Gerade bei den indigenen Kulturen von Nordamerika waren vor allem die „drei Schwestern“ häufig zu finden: Mais, Kürbis und Bohnen, die zusammen auf einem Feld angebaut wurden. In Südamerika fanden sich zum Beispiel auch Tomaten und Paprika.

Wichtig sei gesagt: In Amerika wurden praktisch keine Tiere abseits von Hunden gehalten. Viehzucht in dem Sinne, wie wir es in Europa, Afrika und Asien hatten, gab es hier nicht. Stattdessen wurde für Fleisch und andere tierische Produkte gejagt. (Milch wurde nicht konsumiert.)

Anders gesagt: Die Ernährung sah sehr anders aus, als in Europa. Vor allem, weil natürlich die Pflanzen und Tiere andere waren.

Abwertung der Ernährung

Als die Kolonialisten nun nach Amerika kamen, werteten sie die indigene Bevölkerung natürlich sofort als „Wilde“ ab. In Europa war damals bereits ein Denken verbreitet, das wir heute als „du bist, was du isst“ bezeichnen. Entsprechend entstand speziell bei den Spaniern das Vorurteil, dass sie selbst „verwildern“ würden, wenn man die indigenen Nahrungsmittel konsumieren würde. Auch, als andere europäische Kulturen ebenfalls nach Amerika kamen, sah man ähnliche Einstellungen. Zum Beispiel sind viele Vorstellungen, die wir noch heute über das Essen haben (ein gutes Beispiel sind die „drei Malzeiten am Tag“) in dieser Zeit und dem Versuch der Abgrenzung von der indigenen Essenskultur begründet.

Natürlich sei an dieser Stelle gesagt, dass unterschiedliche europäische Kulturen unterschiedlich mit den Pflanzen der amerikanischen Kulturen interagiert haben – englische Siedler*innen haben sich zum Beispiel recht schnell mit dem Mais angefreundet, während die Spanier*innen diesen über viele Jahrzehnte hinweg ablehnten.

Vor allem aber wurde auch abgewertet, dass die indigenen Kulturen eben nur Fleischkonsum über Jagd kannten, während Europäische Kulturen ihre Viehzucht hatten. Und natürlich sei an dieser Stelle angemerkt, dass speziell Schweine als Waffe innerhalb des Kolonialismus eingesetzt wurden. Zum einen, weil sie ganze Landstriche in dem Land, in dem sie keine natürlichen Jäger hatten, verwüsteten, zum anderen, weil sie Zoonosen (also auf Menschen übertragbare Krankheiten) mit sich brachten.

Eingrenzung der Ernährung

Europäische Kriegsführung beinhaltete schon immer, dass man versucht hat, eine gegnerische Nation von ihren Nahrungsquellen abzuschneiden. Beispielsweise indem man Felder verbrannt hat. Ähnliches versuchte man auch in Amerika, um die Kulturen besser zu unterdrücken. Auch war dies natürlich ebenfalls von der „du bist, was du isst“ Idee beeinflusst – und dem Plan die „Wilden“ zu „zivilisieren“. Entsprechend hat man versucht die amerikanischen Völker von ihren Lebensmitteln abzuschneiden und sie dazu zu zwingen Beispielsweise Getreide anstatt von Mais zu verwenden.

Auch andere, kulturelle Zusammenhänge mit Essen – denn essen hat immer einen kulturellen Einfluss – wurden unterbrochen. Zum Beispiel bestimmte Traditionen im Kontext der Jagd oder auch die Umgebung in der Essen konsumiert wurde. Man versuchte indigene Menschen dazu zu zwingen, sich der europäischen Ernährung anzupassen.

Gleichzeitig wurde auch in verschiedenen Regionen versucht die indigene Bevölkerung auszurotten, in dem man ihr den Zugang zur Ernährung nahm. Sei es, dass man sie auf Landstriche vertrieb, in denen wenig wuchs, oder dass man versuchte die Büffel, die für diverse nordamerikanische Steppenkulturen einer der Hauptproteinlieferanten waren, auszurotten. Die Kontrolle und Vernichtung von Nahrungsmitteln war eine zentrale Waffe im Rahmen von Kolonialismus und Genozid.

Aneignung der Ernährung

Doch natürlich endet es damit nicht. Denn wenn wir eine Sache über den Kolonialismus wissen, dann auch, dass er immer wieder mit kultureller Aneignung einher ging. Denn wie schon gesagt: Die Engländer, die fanden den Mais eigentlich ziemlich gut. Und genau so wurden sich andere Grundnahrungsmittel selbst angebaut. Was per se erst einmal ein neutraler Akt sein könnte – hätte man nicht gleichzeitig versucht die indigene Bevölkerung von denselben Nahrungsmitteln abzuschneiden. Auch wurden ganze Gerichte in die eigene Küche übernommen und gingen auf einmal in die eigene Nationalküche über. Dies gilt natürlich doppelt für diverse Zutaten (was wären diverse Mittelmeerküchen ohne Tomaten und Paprika?).

Dies ist natürlich etwas, dass wir vor allem sahen, als der Kolonialismus sich dann auch auf andere Gebiete ausbreitete. Unglaublich viele Europäische „Nationalspeisen“ haben ihren Ursprung außerhalb von Europa. Sei es in Asien oder Nordafrika. Teile von Gerichten, Konzepte von Gerichten oder auch einfach ganze Rezepte wurden sich angeeignet und übernommen.

Dieser Teil des Ernährungskolonialismus ist bis heute ein großes Problem. Denn nichts anderes ist es, wenn eine deutsche Firma betrieben von den kartoffeligsten aller Deutschen (die Kartoffel ist übrigens auch ein schönes Beispiel) auf einmal Phở oder Kimchi als Fertigprodukte verkauft – Gerichte, die komplett aus anderen Kulturen übernommen und angeeignet wurde. Auch der versuch Lebensmittel und Gerichte von ihrem originalen kulturellen Kontext zu trennen und „neu“ zu entdecken ist letzten Endes nichts weiter als Kolonialismus.

Folgen der Kolonialisierung

Gerade in Bezug auf Lebensmittel sehen wir so endlos viele Folgen des Kolonialismus auf der Welt.

Ein Beispiel ist, dass diverse indigene Agrarprodukte komplett oder beinahe komplett ausgestorben sind, da die indigenen Kulturen sie für lange Zeit nicht anbauen konnten oder durften. Mais ist ein gutes Beispiel hierfür, denn wie bereits gesagt: Als die Europäer nach Amerika kamen, gab es viele Maissorten. Was heute jedoch immer und immer wieder auf den Feldern zu sehen ist, ist meist nur Zuckermais und Futtermais. Diverse alte Sorten gelten als Nahezu ausgestorben. Und selbiges lässt sich auch für viele andere indigene Produkte, wie zum Beispiel Tomaten, Paprika oder eben die Kartoffel sagen.

Gleichzeitig sei eben auch gesagt, dass Land, das eigentlich indigenes Land ist, bis heute dafür verwendet wird, eben diese kolonialen Früchte anzubauen. Sei es europäische Getreidesorten, sei es eben diese von Europäern gezüchtete Version von Mais und anderen Pflanzen. Es ist einer der Gründe, warum einige indigene Kulturen so hart kämpfen müssen, um ihr Land zurück zu bekommen. Mehr noch, im bestimmte Lebensmittel (wie beispielsweise die Banane) anzubauen, wurden sogar Genozide begangen. (Weshalb wir keine Chiquita konsumieren sollten. Schaut es nach.)

Die große Ironie ist, dass Europa es erfolgreich geschafft hat, so viel Kolonialismus zu betreiben, dass einige Länder vollkommen den Bezug zur eigenen Küche und vor allem den ursprünglichen Pflanzenarten, die in ihrer Region wuchsen, verloren haben. Viele Leute in Europa kennen die eigenen Feldfrüchte gar nicht mehr – da sie eben Tomaten, Paprika und anderen importierten Produkten gewichen sind.

Dekolonialisierung der Ernährung

Dekolonialisierung der Ernährung hat entsprechend viele Seiten. Ein wichtiger Teil von jedem Aspekt der Dekolonialisierung ist „Land zurück“. Die indigenen Völker sollten ihr Land selbst verwalten dürfen und dort anbauen dürfen, was sie für richtig halten. Das gilt für die Amerikas, aber auch für andere Regionen dieser Welt. Land und Ernährung hängen und hingen immer schon sehr eng miteinander zusammen – und deswegen auch Land und Kultur. Kulturen von ihrem Land zu trennen ist daher bereits an sich ein Versuch des Genozides.

Gleichzeitig sollte es auch zur Dekolonialisierung der Ernährung gehören, dass erlaubt wird, dass eben jene ursprünglichen Varianten der Feldfrüchte wieder angebaut werden, selbst wenn sie vielleicht anders schmecken und weniger ertragsreich sind, als die modernen, gezüchteten Varianten. Auch sollte Raum dafür geschaffen werden, dass indigene Kulturen ihre Gerichte wieder so zubereiten dürfen – und ihnen den kulturellen Kontext geben dürfen – wie es einst geschehen ist. Natürlich nur, wenn sie es wollen. Denn es darf natürlich nicht Teil von der Dekolonialisierung sein, dass Europäer*innen sagen: „Ihr habt das so und so zu tun.“

Allerdings gibt es eben auch diesen anderen Aspekt der Dekolonialisierung der Ernährung: Eine aktive Besinnung darauf, woher unser Essen eigentlich herkommt. Wir sollten uns bewusst machen, woher die verschiedenen Lebensmittel kommen, die wir tagtäglich konsumieren, und wie sie entstanden sind. Gleichzeitig sollte es nun einmal auch so sein, dass wir lernen, was für Lebensmittel in Europa eigentlich traditionell konsumiert wurden, bevor es zum Kolonialismus und damit zur Aneignung kam.

Denn letzten Endes verstehen wir vielleicht auch ein wenig besser, wie wichtig Ernährung als Kulturgut ist, wenn wir die Verbindung unseres eigenen Speiseplans mit der Kultur verstehen.

Und um Himmelswillen! Hört endlich auf den Leuten in eurer europäischen Mittelalter-Fantasy Kartoffeln zu servieren!


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