„Mein Charakter hat keine Sexualität …“

Heute möchte ich über eine Sache reden, die ich von einigen Autoren immer wieder höre: „Mein Charakter hat keine Sexualität, solange das keine Rolle spielt! Ist für den Charakter ja eh egal.“ Und das ist eine Sache, die ich als sehr störend empfinde – und als unwahr. Denn ich garantiere euch eine Sache: Autoren, die das sagen, schreiben alle ihre Charaktere als cishetero. Hier ist wieso.

Heteronormativität

Wir haben bereits über Heteronormativität gesprochen – ja, deswegen habe ich mit dem Thema angefangen. Und bei diesem Thema ist Heteronormativität auch die Fragestellung, auf die alles hinausläuft. Eigentlich könnte man es relativ leicht beantworten: Egal, wie sehr du als Autor darauf beharrst, dass ein Charakter keine sexuelle Ausrichtung hat, so schreibst du als Teil einer heteronormativen Gesellschaft. Das heißt, du wirst, genau so wie deine Leser, praktisch automatisch „keine sexuelle Ausrichtung“ mit dem Standard, nämlich „Heterosexualität“ gleichsetzen. Das magst du nicht bewusst tun, aber es ist eine Sache, die sehr wahrscheinlich da ist.

Das liegt eben daran, dass wir in unserer Gesellschaft die Abwesenheit von sexueller Ausrichtung und damit verbundenen Markern mit Heterosexualität gleichsetzen. Weil der „Blanko“ Status eben nicht als „nichts Festes“, sondern als hetero wahrgenommen wird. Auch von den Lesern.

Damit sind wir eben auch bei dem Aspekt, warum Dumbledore letzten Endes nicht schwul ist: Weil Word of God nur für diejenigen etwas ändert, die dieses Word of God kennen. Solange im Buch nichts ist, wird die Abwesenheit von entsprechenden Eigenschaften als Standard wahrgenommen werden. Als hetero.

Die Sache mit dem Weltenbau

Was will ich damit sagen? Nein, natürlich nicht, dass ihr eure Charaktere klischeehaft machen sollt. Stattdessen soll das hier eine Bitte sein, euch vorher über ein paar Dinge bzgl. des Charakters Gedanken machen. Zum einen, um auf Repräsentation zu achten, zum anderen aber auch, um den Charakter auszuarbeiten. Denn dazu gehört Sexualität genau so, wie die Wahrnehmung des eigenen Geschlechts.

Zentral dabei sollte für euch eine Frage sein: Ist eure Welt heteronormativ? Wenn nicht, ja, dann ist es eventuell etwas anderes. Doch ich kann mich an kaum eine Geschichte erinnern, die nicht heteronormativ war. Es ist aus unserer Perspektive meist leichter zu schreiben, weil die wenigsten von uns hier in Deutschland, Österreich, Schweiz keinerlei Erfahrungen mit Gesellschaften haben, die nicht heteronormativ sind. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie das aussieht.

Deswegen ist hier der Weltenbau in diesem Kontext durchaus nicht unwichtig. Doch wie gesagt, beinahe immer sind die Welten doch heteronormativ. Es ist leichter. Wenn das nicht der Fall ist, sollte man natürlich erwarten, dass so oder so kanonisch queere Charaktere mehrfach zu sehen sind, da dies in so einer Welt dazugehören würde.

Unterschiedliche Erfahrungen

Der zentrale Aspekt, für den eine Vorstellung über die Sexualität des Charakters wichtig sind, sind diverse Erfahrungen, die ein Charakter irgendwann in ihrem*seinem Leben und ihrer*seiner Jugend macht. Denn diese unterscheiden sich – selbst wenn si*er nicht zwangsläufig angefeindet wird. Dennoch gibt es diverse Dinge, die etwas anders ablaufen.

Ein Beispiel dafür, ist das fehlende Social Script. Social Script beschreibt sozial akzeptiertes Verhalten innerhalb eines Kulturkreises für bestimmte Situationen, die wir vorrangig implizit erlernen – durch das Beobachten und Imitieren von anderen Menschen, durch Situationen in denen wir soziale unangenehme Erfahrungen gemacht haben und durch die Medien. Social Script gibt uns bspw. vor, dass es sich richtig anfühlt „Oh, das tut mir leid“ zu antworten, wenn wir hören, dass jemand aus der Verwandtschaft des Gegenübers kürzlich verstorben ist. Social Script ist aber auch, was uns eine grobe Übersicht darüber gibt, wie Flirten funktioniert.

Und genau das ist ein Beispiel dafür, wo sich Lebenserfahrungen von queeren Menschen unterscheiden. Denn oftmals fehlt uns ein vollständiges Social Script, wenn es um diese und andere Dinge geht. Entsprechend sind bestimmte Situationen mit mehr Unsicherheit verbunden, als es für cis heterosexuelle Menschen der Fall wäre. Wie flirtet man? Die Unsicherheit ist doppelt da, weil die andere Frage ebenso ist: „Ist die Person überhaupt ebenfalls bi/pan/homo? Wird die Person feindlich auf meine Annährung reagieren?“

Auch die Sache mit dem Coming Out ist eben da. Ein queerer Mensch muss damit leben, entweder falsch wahrgenommen zu werden – oder muss sich outen. Und auch wenn diverse Geschichten es implizieren: Letzten Endes outet man sich nicht einmal, sondern immer und immer wieder. Jemand flirtet mit einem und schon muss man sich outen. Das gilt für asexuelle und aromantische Menschen übrigens genau so, wie für homosexuelle.

Anfeindungen

Oben schrieb ich schon „selbst ohne Anfeindungen“ geschrieben habe: Ihr solltet dennoch Gedanken machen, inwieweit es realistisch wäre, dass euer Charaktere aufgrund von Sexualität oder Geschlechtsidentität in der Jugend oder allgemein im Leben hat Anfeindungen erfahren müssen. Wie sind die Eltern damit umgegangen? Wie sind etwaige Geschwister damit umgegangen? Wie wurde in der Schule umgegangen? Oder auch: Wenn der Charakter nicht out war, hatte das wahrscheinlich einen Grund. Und auch dieser Grund wird sich auf den Charakter als solcher ausgewirkt haben.

Wenn die Charaktere aus einem religiösen Umfeld kommen, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass es zumindest eine Person im nahen Umfeld gab, die in irgendeiner Form sich queermisisch geäußert hat. Und ja, auch das sollte einen queeren Charakter beeinflusst haben. Solche Dinge können sich beispielsweise auch auf den Umgang des Charakters mit bestimmten Autoritätspersonen und Religion auswirken.

Oder aber auch: Eventuell hat der Charakter Queermisia internalisiert und hasst sich selbst und andere Queers dafür, queer zu sein. Natürlich wirkt sich auch das massiv auf das Verhalten des Charakters aus.

Genau so wie Anfeindungen durch Fremde ebenfalls sich auf Verhalten in der Öffentlichkeit und dergleichen auswirken können. Genau deswegen sind solche Gedanken wichtig.

Charakterbau

Aus diesen Gründen gehe ich noch einen Schritt weiter: Ich behaupte, dass es schlechter Charakterbau ist, sich keine Gedanken über die Sexualität und die Geschlechtsidentität des Charakters zu machen. Diese Eigenschaften sind Charaktereigenschaften wie andere Aspekte ebenso. Es gehört zum Charakter dazu, wie es zum Charakter dazugehört sich auch sonst Gedanken zu machen, was für Erlebnisse die Kindheit und Jugend des Charakters geprägt haben.

Charaktere werden durch viele Aspekte geprägt. Aspekte, die ihr Verhalten in verschiedenen Situationen beeinflussten. Aspekte, die ihre Beziehungen zu anderen Charakteren beeinflussen. Aspekte, die ihre Entscheidungen in Gefahrensituationen beeinflussen. Aspekte, die ihre Art zu reden, einfach alles beeinflussen.

Deswegen halte ich es für wichtig, dass man möglichst viele Aspekte eines Charakters – wenigstens eines zentralen Charakters – betrachtet. Und dazu gehören nun einmal auch Sexualität und Genderidentität.

Fazit

Letzten Endes kann ich nur sagen: Wenn ihr euch als inklusiv seht, dann macht euch Gedanken über die Sexualität und Geschlechtsidentität eurer Charaktere, gestaltet diese divers und schreibt das auch in die Geschichte hinein. Explizit. Auch wenn es keine Rolle für die Handlung spielt. Gerade, wenn es keine Rolle spielt. Denn – wie ich schon mehrfach geschrieben habe – nur weil jemand nicht queer lebt, heißt es nicht, dass si*er nicht queer ist.

Ähnliches gilt übrigens auch dafür, wenn die Charaktere anderen Minderheiten angehören. Da sich auch hier die Lebenserfahrungen unterscheiden können. Dennoch bleibt natürlich immer die bitte, eventuell nicht zu sehr auf Erfahrungen einzugehen, von denen ihr nicht betroffen seid. Hier ein kleiner Hinweis auf den Own Voice Eintrag vom letzten Monat.

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