Dekolonialisierung der Phantastik: Der weiße, menschliche Retter
Diesen Monat geht es bei der „Dekolonialisierung der Phantastik“ um einen Trope, der nicht nur in der Phantastik vorkommt, in dieser jedoch oft noch einmal eine besondere Anwendung findet. Es ist ein Trope, über den ich vor einem Jahr schon einmal gesprochen habe: „White Savior“. Oder wie es bei Fantasy oft ist: „The white & human savior“.
Wenn ihr mehr über die Reihe „Dekolonialisierung der Phantastik“ erfahren wollt, schaut bitte in der Einleitung vorbei, wo ihr auch die bisherigen Beiträge verlinkt findet.
CN: Rassismus, Krieg
Was ist der „White Savior“?
Einleitend sollten wir über eine Sache sprechen: Was ist der „White Savior“ überhaupt? Nun, tatsächlich lässt sich das Argument machen, dass „White Savior“ und der dazugehörige „White Savior Komplex“ bereits auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Tatsächlich gibt es Argumente, dass es vor allem mit diesem Gedicht anfängt, dass ich bereits angesprochen habe: „The White Man’s Burden“ oder auf Deutsch „Die Bürde des weißen Mannes“. In diesem Gedicht, das letzten Endes sehr stark auf der Ideologie der Rassenlehre aufbaut, geht es darum, dass „der weiße Mann“ als der „am weitesten entwickelte Mensch“ die moralische Verantwortung hat „weniger weit entwickelte Menschen“ vor sich selbst zu retten. Wie schon gesagt: Diese Ideologie hat den späten Kolonialismus massiv vorangetrieben.
Der aus diesem Denken resultierende Trope hat sich bereits früh in den Medien gezeigt, ist vor allem aber über Hollywood-Filme verbreitet worden. Die Zusammenfassung des Tropes ist: „Weißer Mensch rettet nicht-weiße(n) Menschen“. Dabei können die Ausprägungen jedoch unterschiedlich sein.
Übliche Narrativen sind:
- Historischer Film, der die Unterdrückung einer bestimmten nicht-weißen Gruppe (sei es durch andere nicht-weiße Menschen, sei es durch weiße Menschen) darstellt und den weißen Menschen, der sich dafür einsetzt, dass diese Unterdrückung beendet wird.
- Kontemporärer Film über einen nicht-weißen Menschen, di*er es nicht gut hat – sei es, weil si*er nicht-weiß ist und unter Rassismus leidet, sei es, weil si*er arm ist, sei es, weil si*er in die Kriminalität abgerutscht ist. Dankbarerweise wird ein weißer Mensch darauf aufmerksam und hilft das Leben des nicht-weißen Menschen wieder auf die richtige Spur zu bringen.
- Kontemporärer Film über eine Gruppe nicht-weißer Menschen, die unter systematischen Problemen leiden, bis ein weißer Mensch darauf aufmerksam wird und sie dazu bringt für ihre Rechte zu kämpfen.
Filme voller weißer Retter
Das gesagt, schauen wir uns ein paar konkrete Beispiele an, ja?
Ein klassischer Film, den viele sicher kennen und der dies recht gut zeigt, ist „Wer die Nachtigal stört“ (To kill a mockingbird). Atticus wird vor allem in der filmischen Version stark als weißer Retter dargestellt, der den falsch angeklagten Tom Robinson als Anwalt verteidigt. Während am Ende Robinson stirbt, wird Atticus dennoch als Held von der schwarzen Community gefeiert.
Ein besonders tückisches Beispiel ist auch „The Blind Side“ – ein Film, der vermeintlich auf einer wahren Geschichte beruht. Hier hilft eine weiße Frau einem schwarzen Jungen (Michael Oher), der vorher vermeintlich kein Zuhause hatte, da er von seinen Pflegefamilien weggelaufen ist, eine Karriere als Football-Spieler zu bekommen. Sämtliche schwarze Menschen, die eine Rolle in Michaels Leben und seiner Karriere hatten, wie beispielsweise seine Großmutter, fehlen komplett in dem Film. Ähnliches lässt sich übrigens auch über viele andere „auf realer Geschichte“ beruhende „White Savior“ Filme sagen, wie „The Help“, „Freedom Writers“, „Hidden Figures“ oder „Green Book“.
Auch in diversen alten Western (und vor allem bei Karl May) kommt der Trope immer wieder vor. Hier haben wir oft einen weißen Mann, der eventuell von einem (oft nicht näher beschriebenen) indigenen Stamm aufgenommen wurde und indigene Menschen rettet. Sei es, dass er sie vor anderen Kolonisten, vor Banditen oder vor anderen indigenen Stämmen retten muss. Sowieso erlaubt das Genre per se beinahe ausschließlich, dass indigene Menschen verteufelt oder von einem weißen Rettet, nun, gerettet werden. Immerhin sind die Helden (Maskulinum ist Absicht) beinahe immer weiß.
Aber die Liste solcher Filme ist endlos lang und tatsächlich scheint es fast, dass in den letzten 20 Jahren noch mehr Filme der Art gemacht wurden, als früher. Vielleicht ein Nebeneffekt der Tatsache, dass erwartet wird, mehr BIPoC Figuren einzubringen, während diverse weiße Drehbuchautor*innen sich schwer tun, über diese zu schreiben …
Der weiße, menschliche Retter
Und natürlich setzt sich dieser Film auch in der Phantastik fort. Teilweise im klassischen Sinne, teilweise aber auch in der Fassung des „menschlichen Retters“, der natürlich weiß ist.
Es gibt denke ich kein besseres Beispiel hierfür, als Avatar (und zwar der mit den blauen Aliens). Die Na’vi sind sowieso ein Beispiel einer Alien-Spezies, die sehr indigen kodiert wurden. Wie andere schon sagten: Es ist Pocahontas im Weltraum. Gerettet vor den Kolonist*innen werden sie von einem weißen Menschenmann, der viel besser darin ist mit ihrem Planeten zu kommunizieren – wahrscheinlich weil er ein weißer Menschenmann ist und in Filmen mit diesem Trope diese sowieso besser sind als alle anderen.
Allgemein lässt sich dies auf viele, sehr viele Science Fiction Werke ausweiten, in denen fremde Planeten von Menschen oder dunklen Mächten bedroht werden, aber dann auch von einem Menschen (der wahrscheinlich weiß ist) gerettet werden. In Star Wars steht dies so oft an der Tagesordnung, aber auch Star Trek – so sehr es in vielen Dingen seiner Zeit voraus war – hat diesen Trope mehr als einmal benutzt. Da beide Serien viel Science Fiction inspiriert haben, hat sich auch dies natürlich ausgebreitet.
Filme, die ebenfalls dafür kritisiert sind, sind diverse chinesisch-europäische oder chinesisch-amerikanische Co-Produktionen, von denen es in letzter Zeit immer mehr gibt. Um für das internationale Publikum ansprechend zu sein, haben diese häufig weiße Protagonist*innen, spielen aber in China, weshalb die Protagonist*innen dann mal eben Chines*innen retten. Ein bekanntes Beispiel hierfür wäre The Wall.
Aber auch einige der Marvel-Filme
vor allem aus der ersten und zweiten Phase des MCU haben diesen Trope
in seiner realen Anwendung häufiger gehabt. Speziell Iron Man
sei hier natürlich genannt, aber beispielsweise ist es definitiv
auch eine Kritik, die an Captain Marvel getroffen werden muss.
Und auch in epischen, von Tolkien inspiriertem Fantasy, in dem die anderen Spezies nun einmal stark nach BIPoC kodiert sind, ist es oft so, dass es Menschen sind, die alle anderen Spezies und Völker ihrer Welt vor einem etwaigen dunklen Lord bewahren. Sicher, einzelne Mitglieder anderer Spezies spielen dabei vielleicht mit – doch die großen Helden sind beinahe immer die Menschen.
Auch in Urban Fantasy ist der Trope – hier sogar direkt – sehr verbreitet. Die meist weißen Held*innen werden fast immer in einem Band irgendwelche BIPoC Charaktere retten – nicht selten vor „Monstern“, die Autor*innen via kultureller Aneignung aus den entsprechenden Kulturen entnommen haben.
Rettet niemand sich selbst?
Vielleicht sollten wir in dem Zusammenhang auch erwähnen, dass ähnliche Tropes nicht nur BIPoC betreffen. Auch andere Marginalisierte müssen in Filmen und anderen Medien aus ihrer Marginalisierung/Diskriminierung gerettet werden. Wer bspw. Dallas Buyers Club oder einen beliebigen „Inspirationsfilm“ über einen behinderten Menschen und den nicht-behinderten Menschen, der ihm ein lebenswertes Leben gibt, gesehen hat, weiß, was ich meine.
Es sind Geschichten, die eine Geschichte über eine Gruppe oder auch einzelne Menschen erzählen. Vielleicht sind diese Menschen queer, vielleicht behindert, vielleicht sind sie auch nur (OMG) Frauen. So oder so: Sie haben mit Diskriminierung und dergleichen zu tun, bis ein von dieser Diskriminierung nicht betroffener Charakter (meist wein cishetero weißer Mann) darauf aufmerksam wird, sich für sie einsetzt und ihnen so beibringt zu kämpfen.
Anders gesagt: In Fiktion scheint es erstaunlich vielen Leuten sehr schwer zu fallen, sich selbst zu retten. In Fiktion brauchen Marginalisierte immer jemand Privilegierten, der ihnen zu kämpfen beibringt – oder in einigen Fällen ihnen gar erst einmal erklären muss, wie unfair ihre Situation ist. In Fiktion – egal ob Phantastik oder nicht – braucht es die weißen cishetero Männer, um alle andere zu retten. Denn alle anderen sind passiv, haben keine eigene Agenda, keine eigenen Ziele, sind häufig nur Statisten in ihren eigenen Kämpfen.
Der Retter-Komplex
Und aus solchen Erzählungen – die uns nicht nur in Unterhaltungsmedien, sondern auch teilweise in Nachrichten, Werbung, Dokumentation und selbst in Schulen begegnen – entsteht toxisches Verhalten. Verhalten, das auch Politik beeinflussen kann. Wer selbst marginalisiert ist, hat wahrscheinlich einmal Erfahrungen mit einem Ally gemacht, der glaubte, besser zu wissen, welche Rechte man als marginalisierte Person braucht und wie man für diese kämpfen soll/darf. Etwas, das eben auch darauf zurückgeht, dass Medien diese Geschichten eben aus der Perspektive erzählen und damit dem „Ally“ die meiste Agenda geben.
Besonders sieht man dies allerdings beim „weißen Retter“. So weit, dass es ein Verhaltensmuster gibt, dass als „White Savior Complex“ bezeichnet wird. Gemeint damit ist das denken, als weißer Mensch hingehen und arme Kinder in einem nicht-weißen Land „retten“ zu müssen. Und das kann dabei einige sehr, sehr schlimme Folgen haben. Es fängt an mit Menschen, die „arme Kinder“ retten wollen, in dem sie diese adoptieren – selbst wenn das Kind eigentlich eine intakte, liebende Familie hat. Kinder werden so teilweise auch ihren Familien, zumindest aber aus ihren Kulturkreis gebrochen, ob sie es wollen oder nicht. Egal, wie gut die Intentionen in einigen Fällen sind (in manchen Fällen ist es pure Selbstdarstellung), so ist es für das Kind nicht gut.
In eine ähnliche Kerbe schlagen diverse weiße Hilfsorganisationen, die gegen dieses oder jenes Übel in nicht-weißen Ländern vorgehen wollen. Doch nicht selten passiert es, dass einige Organisationen mit wenig Verständnis für das kulturelle Umfeld dieser Probleme (die nicht einmal immer welche sind) herangehen. So kommt es dann, dass bestenfalls nur Symptome behandelt werden – schlimmstenfalls diese vermeintliche Hilfe jedoch erneut eine Form von kulturellen Kolonialismus annimmt, in dem die Problemlösung aus Sicht der Organisation eine Übernahme westlicher Kultur bedeutet.
Und das ist ohne auf die Fälle einzugehen, in denen wirklich einzelne Personen mit zu viel Geld „mal eben“ in irgendwelche nicht-weißen Länder fahren um Menschen zu helfen, dabei aber teilweise genau diese Menschen töten, weil sie einfach überhaupt nicht wissen, was sie tun. Diese Fälle gab es und es gibt sie immer wieder. Und ja, die Erzählungen über „weiße Retter*innen“, gemeinsam mit der oftmals noch immer festsitzenden Vorstellung einer weiter entwickelten „westlichen“ Kultur sind ein Grund für so etwas.
Wie wir Geschichten erzählen
Wir sollten darauf achten, wie wir Geschichten erzählen und welche Geschichten wir wiedergeben. Letzten Endes ist die bis heutige Existenz des Tropes nicht zuletzt darin begründet, wessen Geschichte erzählt wird. Zu oft erzählen wir nicht die Geschichte eines BIPoC, sondern des einen weißen Menschen, der in dem Leben eine Rolle gespielt haben – zum einen weil Massenmedien nun einmal weiterhin oft von weißen Menschen gestaltet werden, zum anderen aber auch, weil wir überall vermittelt bekommen, dass Geschichten so erzählt werden. Selbst die tatsächliche historische Geschichte lernen die meisten nur aus einer weißen Perspektive kennen, in der alles – gut, wie schlecht – letzten Endes von weißen Menschen ausging.
Doch genau deswegen müssen wir bei unseren eigenen Geschichten hinterfragen, inwieweit wir in diesen Trope hereinfallen. Auch dann wenn wir eine phantastische Geschichte schreiben, in der eventuell Rollen durch kodierte Spezies ersetzt werden können. Denn solange wir den Trope reproduzieren, reproduzieren wir eine Narrative, in der Menschen von sich aus keine Bestrebung haben, sich aus miesen Situationen befreien. Ja, marginalisierte Menschen brauchen privilegierte Allys, die helfen, sie zu schützen und ihr Privileg nutzen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Aber es darf keine Geschichte über einen privilegierten Menschen sein, der marginalisierte Menschen gerettet hat – marginalisierte Menschen, die oftmals schon lange vorher gekämpft haben und definitiv keine „Inspiration“ brauchten.
Es ist kein Trope, der spezifisch für die Phantastik ist, nein, aber ein Trope, der dennoch immer wieder auftaucht. Und es ist ein Trope der dringend verschwinden muss. Wenn ihr selbst marginalisiert seid: Schreibt Geschichten aus eurer Perspektive über Charaktere, die für sich selbst kämpfen. Wenn ihr nicht marginalisiert seid: Schreibt bitte Figuren, ohne sie auf etwaige Marginalisierungen zu reduzieren. Aber bitte, bitte, schreibt keine Geschichte, in der BIPoC von weißen Leuten gerettet werden müssen – auch keine, in denen die BIPoC von so kodierten Elfen, Orks oder Aliens repräsentiert werden.
Quellen & weiterführende Links
- Shadow and Movies: What is the white savior trope?
- The Atlantic: The White-Savior Industrial Complex
- ARTE: White Saviorism – Wenn Hilfe nicht hilfreich ist
- Nerdy PoC: Daenerys Stormbodn – Annoying White Saviour of House Targaryn
- Public Medievalist: Game of Thrones‘ Racism Problem
- Jack Saint: James Cameron’s Avatar: Dances with White Saviors [Video]
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