Ein Plädoyer für mehr Rücksichtsnahme
Rücksichtnahme ist schon wichtig, findet ihr nicht auch? Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, für alte Leute, die nicht gut stehen können, für Schwangere oder Leute mit gebrochenem Bein im Bus oder Zug aufzustehen, oder? Es sollte selbstverständlich sein, seine Musik nachts leise zu hören und sich zu bemühen, niemanden zu schaden. Sicher, das klappt nicht immer. Aber wenn doch mal was passiert, dann …
Die jugendlichen Rempler
Kennt ihr das auch? Ihr seid in der Stadt unterwegs, es ist gerade viel los und dann kommt da so ein Teenie an, hat es eilig, rempelt einen an, dass man beinahe fällt und sagt nicht mal „Entschuldigung“! Dabei sollte es eigentlich selbstverständlich sein, oder? Ich meine, sicher, der hat euch wahrscheinlich nicht absichtlich angerempelt, aber wehgetan hat es dennoch. Kurz nur, sicher. Aber ein wenig Rücksichtnahme sollte eigentlich nicht zu viel verlangt sein.
Immerhin sollte man auch mal daran denken, was alles passieren könnte. Denn ich meine, wenn wir es ganz übertreiben wollen, kann halt auch ein kleiner Sturz tödlich sein. Okay, das eher selten. Aber dass dadurch jemand ins Schwanken gerät und doof stürzt, sich dabei was bricht oder verstaucht ist gar nicht soweit hergeholt. Umso mehr, wenn die Person vielleicht alt ist oder krank. Passiert im Gedränge doch alles so schnell. Ist es da wirklich zu viel verlangt einmal innezuhalten, sich zu entschuldigen und zu fragen ob alles okay ist? Ist es wirklich zu viel verlangt von vorn herein Rücksicht zu nehmen?
Rücksicht ist ein Minenfeld
Und, ich mein‘, Rücksicht gibt es natürlich nicht nur im Physischen. Rücksicht ist halt mehr, als Leute nicht anrempeln und im Zug aufstehen. Es ist ja beispielsweise auch Rücksichtnahme beim Essen den Mund zuzumachen oder nicht über irgendwelche ekeligen Dinge zu reden, um anderen nicht den Appetit zu verderben. Und beim Niesen die Hand vor den Mund nehmen, damit man niemanden mit seinen Bazillen infiziert. Rücksicht kann so vieles besser machen.
Und das gilt ja auch, wenn man mit den Leuten redet. Wobei das auch die Jugend wenigstens gut auf die Reihe bekommt. Wenn ich mit anderen Leuten – auch Jugendlichen – über irgendetwas rede und das Thema auf die Eltern zu sprechen kommt und ich anmerke, dass ich keine mehr habe, wird sich sofort entschuldigt. Oftmals fragt man – wenngleich halt einfach formal – ob man was tun kann oder das Thema wechseln soll. Ich meine: Ich brauche das nicht. Aber dennoch ist das eine ziemlich gute Sache.
Mehr als nur Alltag
Wie die meisten wahrscheinlich ahnen können: Mir geht es hier nicht um Rempler und den offenen Mund beim Essen. Also einmal ganz davon abgesehen, dass die Rempler jung und alt sein können. Denn eigentlich möchte ich auf etwas anderes hinaus. Aber das hat auch mit Rücksichtnahme zu tun. Und damit eigene Fehler einzusehen, die unabsichtlich passieren können, und sich zu entschuldigen. Eigentlich nicht so schwer, oder?
Denn ja, ich denke, die meisten von uns haben auch schon einmal jemanden im Gedränge angerempelt, obwohl wir es nicht wollten. Manche von uns haben vielleicht sogar schon richtige Unfälle gebaut und es nicht gewollt. Und das ist scheiße. Man kann nicht viel mehr machen, als sich zu entschuldigen, etwaige Arztkosten zu tragen (oder zu hoffen, dass die Versicherung es tut) und in Zukunft besser aufzupassen. Aber die Entschuldigung sollte selbstverständlich sein – oder etwa nicht?
Nun stellt euch aber mal vor ein solcher Rempler würde stattdessen dich ansehen und sagen: „Tut mir ja leid, dass du dich angerempelt gefühlt hast! Warum musstest du dir auch die Hand brechen? Jetzt stell dich mal nicht so an! Du hast ja nur darauf gewartet, dich angerempelt fühlen zu können.“ Ich glaube, wir können und alle einigen, dass das absolut ekelhaftes Verhalten wäre, oder?
Da bleibt die Frage: Warum wird es im Sozialen nicht ebenso gesehen?
Verletzung ist nicht Schuld des Verletzten
Denn natürlich will ich auf etwas ganz anderes hinaus. Nämlich um das gute alte Problem der Rücksichtnahme, wenn es um Ausdrucksweisen geht – in der Literatur und anderswo. Denn wer dort jemanden unabsichtlich verletzt, neigt schnell dazu, die Schuld auf den Verletzten zu schieben. Bestenfalls mit einer Nicht-Entschuldigung à la „Es tut mir leid, dass du dich verletzt fühlst“. Schlimmstenfalls mit einem Vorwurf: „Warum musst du dich den wegen jedem Scheiß so anstellen?“ und „Was kann ich dafür, dass du dich verletzt fühlst?“
Themen dabei können vielfältig sein. Meist hat es mit sozialen Dingen zu tun. Vielleicht geht es um die Verwendung bestimmter sexistisch, rassistisch, ableistisch oder queermisisch konnotierter Wörter, bei denen Betroffene bitten, sie nicht länger zu nutzen. Vielleicht geht es um Triggerwarnungen und das Fehlen von solchen. Vielleicht um problematische Darstellungen von toxischen Beziehungen, Kindesmissbrauch oder Krieg. Vielleicht um problematische Tropes und Klischees. Dinge, die di*er Autor*in meistens nicht so gemeint hat; Dinge, derer Problematik sich di*er Autor*in halt einfach nicht bewusst war – die aber dennoch andere Menschen verletzen.
Niemand hat Schuld an strukturellen Problemen
Es passiert schnell, dass man strukturelle *ismen reproduziert. Da kann ich selbst nur ein Lied von singen. Ich habe jahrelang Sexismus reproduziert, toxische Beziehungen geschrieben und kulturelle Aneignung betrieben. Natürlich habe ich das. Immerhin lebe ich in einer Gesellschaft, in der viele sexistische Annahmen als „Allgemeinwissen“ verkauft werden, toxische Beziehungen in den Medien überall normalisiert werden und kulturelle Aneignung in jeder Form noch immer Alltag sind. Es war normal. Niemand hat mich darüber aufgeklärt, dass es falsch war. Im Gegenteil. Ich habe Lob dafür bekommen, auch von Lehrer*innen und anderen Erwachsenen. Nein, ich habe damit niemanden verletzen wollen. Aber ich habe dennoch damit zu einem bestehenden Schaden beigetragen. Das tut mir leid.
Und genau so glaube ich jeder*m, dass si*er wirklich nicht die Absicht hatte, zu verletzen, als si*er ein vorbesetztes Wort verwendet hat oder eine nicht ganz so gesunde Romanze schrieb oder vielleicht auch einfach eine Gruppe irgendwie ganz im Buch ignoriert hat, die eigentlich Sinn gemacht hätte. Vielleicht war man sich dessen nicht bewusst. Vielleicht hat man geglaubt, es sei einfach nicht so schlimm. Vielleicht hat man es als „normal“ wahrgenommen. Oder vielleicht war man sich nicht dessen bewusst, dass ein Auftreten dieser Gruppe da Sinn gemacht hätte. Das passiert. Niemand ist allmächtig oder allwissend. Niemand kann sich aller Probleme bewusst sein. Niemand muss perfekt sein. Es ist nicht die Schuld des einzelnen, in einer Gesellschaft zu leben, in der diese Dinge normalisiert werden!
Und die Sache ist eben: Ja, manchmal verletzt man unbeabsichtigt Leute. Schlimmstenfalls sogar mit Dingen, die man eigentlich geschrieben hat, um denen zu helfen. Das ist doof. Das fühlt sich mies an. Entsprechende Kritik fühlt sich mies an. Aber die Sache ist: Stellt man sich offen hin und sagt „Das war nicht meine Absicht. Es tut mir leid, dass ich euch verletzt habe. Bitte sagt mir, wie ich es besser hätte machen können.“, beweist man Größe und es wird fast immer respektiert.
Niemand will sich „verletzt fühlen“
Womit wir immer wieder zu der Ausgangslage, die wir viel zu oft finden, zurückkommen. Denn ganz oft ist leider „Größe-Beweisen“ nicht die Reaktion, zu der es kommt. Stattdessen kommt eben der Vorwurf: „Du stellst dich bloß an!“, „Früher hat das nie jemanden gestört!“ (übrigens falsch) und „Du willst dich nur verletzt fühlen!“ oder eben die Nicht-Entschuldigung „Es tut mir leid, dass du dich verletzt fühlst.“ Warum das keine ordentliche Entschuldigung ist?
Aus demselben Grund, dass niemand den Rempler ernstnehmen würde der sagt: „Tut mir leid, dass du dich von mir angerempelt gefühlt hast.“ Der Rempler hat die Person angerempelt. Nicht mit Absicht. Aber es ist passiert. Und genau so haben in solchen Fällen Worte verletzt. Sie haben jemanden verletzt. Nicht mit Absicht. Aber es ist passiert. Sehr wahrscheinlich, wie ihr euch durch die Kritik auch ein wenig verletzt gefühlt habt.
Niemand möchte sich verletzt fühlen. Fühlt sich nämlich beschissen an. Niemand (oder zumindest kaum jemand) sucht gezielt nach Dingen, die ihn verletzten. Im Gegenteil. Die meisten versuchen genau das zu meiden. (Etwas, das übrigens schwerer wird, wenn sich die Leute auch noch weigern Triggerwarnungen zu setzen!) Genau deswegen will man ja bestimmte Autor*innen dann auch nicht mehr lesen, die es für angemessen halten, bestimmte Worte oder Tropes zu nutzen. Aber wenn man sowas halt unwissentlich liest, dann ist man verletzt. Nicht weil man will, sondern weil man immer und immer wieder – in einigen Fällen täglich – denselben Worten und Klischees ausgesetzt ist, die absichtlich von anderen verwendet werden, um zu verletzen. Da kann di*er Autor*in nichts für, nein. Aber dennoch repliziert si*er am Ende eben genau diese Dinge wieder.
Worte stehen nicht im Vakuum
Eine Sache, derer sich Autor*innen und eigentlich alle Menschen bewusst werden sollten, ist, dass Worte nicht im Vakuum stehen. Kunst ebenso wenig. Die Dinge existieren nicht komplett getrennt von einer Gesellschaft, sondern sind Teil von ihr. Sie beeinflussen das Denken und Handeln von Menschen und können damit gute, wie schlechte Dinge bewirken.
Es gibt Menschen, die haben mit bestimmten Personengruppen nicht viel zu tun. Vielleicht leben sie in einer Gegend, wo wenig BIPoC leben. Vielleicht haben sie einfach keine (offen lebenden) queeren Freunde. Vielleicht arbeiten sie in einem Beruf, in dem vornehmlich Männer arbeiten. Und vielleicht kennen sie niemanden, von dem sie wissen, dass si*er eine Behinderung hat. Und vor allem in diesen Fällen ist die Art, wie darüber berichtet wird, auf einmal wichtig.
Denn: Wer persönlich keine schwarzen Menschen kennt, aber immer von „gewaltätigen Schwarzen“ hört, wird unbewusst das Bild formen, dass schwarze Menschen gewaltätiger seien, als andere. Wer selbst keine (offen lebende) bisexuelle Person kennt, aber immer Geschichten liest, in denen Bisexuelle vorkommen, die untreu sind und durch die Gegend schlafen, dann wird auch dies unterbewusst als Teil des Weltbilds akzeptiert. Unterbewusst. Und das gilt für so viele andere Tropes.
Und wer eben selbst nicht betroffen ist und immer wieder abwertende Worte für Personengruppen hört und liest, nimmt diese ebenfalls als normalisiert wahr. Die Person denkt dann einfach nicht darüber nach, ob das Wort eine entsprechende Vorgeschichte hat. Es ist normal für einen selbst – für Betroffene aber ist es das nicht.
Dasselbe gilt für soviele andere Dinge auch. Das einfachste Beispiel ist die „Rosa-Hellblau-Falle“. Wenn Mädchen keine Medien haben, in denen Mädchen/Frauen Ingenieure und Informatiker werden, akzeptieren sie das als Realität – und die Wahrscheinlichkeit ist dadurch größer, dass sie einen Job wählen, den sie häufiger mit Mädchen/Frauen gesehen haben.
Nehmt einfach ein bisschen Rücksicht
Das ist alles, was ich hier eigentlich sagen will: Nehmt Rücksicht. Wenn ihr nicht versteht, warum etwas ein Problem ist: Fragt nach. Aber tut dies bitte nett und freundlich. Statt einem „Dann erklär mir bitte mal, warum DAS ein Problem sein soll“, ist ein „Das tut mir leid. Warum ist das so problematisch? Ich wusste das nicht.“ oftmals viel eher der Weg zum Sieg. Wer lebt lernt beständig weiter, wie man so schön sagt.
Glaubt mir: Die wenigsten werden euch per se vorwerfen, *istisch in irgendeiner Form zu sein, nur weil ihr euch da vertan habt oder euch etwas nicht klar war. Diese Vorwürfe kommen erst, wenn ihr euch pikiert, sofort in die Defensive geht und schlimmstenfalls sogar Beleidigungen und Vorwürfe an diejenigen, die euch kritisieren, loslasst. Oder wenn ihr dieselben Dinge trotz Kritik wieder und wieder wiederholt.
Ein wenig Rücksicht macht das Leben leichter. Niemand „fühlt“ sich einfach nur angerempelt.
Weitere Beiträge zum Thema:
Elea Brandt hat einen schönen Beitrag geschrieben dazu, wie Medien unsere Wahrnehmung der Realität beeinflussen.
Außerdem gibt es diesen Artikel aus dem Guardian, der erklärt, wie der Begriff „politisch korrekt“ entstand und warum es Rechten hilft, wenn man den Begriff nutzt, um sich gegen Vorwürfe an mangelnder oder negativer Repräsentation zu wehren.
Das Beitragsbild stammt von Pixabay.
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