Die Geschichte des Yuri-Genre

Wie ich schon gesagt habe: Ich möchte dieses Jahr vermehrt auch LGBTQ* Manga und Comics rezensieren. Ein nicht unerheblicher Teil der Manga wird auch dem Yuri-Genre angehören – also lesbische Manga. Was es mit dem Genre auf sich hat und wie es entstanden ist, erzähle ich euch heute.

CN Suizid, Queerfeindlichkeit

Girls Love und Yuri – ein unterrepräsentiertes Genre

Wer gerne Manga liest und in eine deutsche Buchhandlung geht, wird ganze Reihen, oftmals sogar Regale voller „Boys Love“ Manga finden. Manga, die romantische (und teilweise auch sexuelle) Beziehungen zwischen Jungen und Männern darstellen. Ein Genre, wohlgemerkt, dass zum Überbegriff der Shojo- und Yosei-Genre gehört – also Geschichten, die für Mädchen und Frauen geschrieben werden. Ein Thema, für einen anderen Tag.

Doch meist im selben Regal, wie Boys Love findet sich eine wesentlich kleinere Kategorie, in vielen Buchhandlungen nicht mehr als eine Hand voll Manga breit: Girls Love. Im Verhältnis zu den männlichen Kollegen ein eher unterrepräsentiertes Genre und doch eins, das auf mich persönlich schon lange eine enorme Faszination ausübt.

Daher lasst uns heute darüber sprechen, wie dieses Genre entstanden ist – und dabei auch ein paar der Probleme ansprechen, die das Genre ausmachen und die auch teilweise reale Lesben in Japan bis heute betreffen.

Am Anfang stand ein Selbstmord

Es ist nicht so, als wäre die japanische Literatur immer fern vom lesbischen Sex gewesen. Denn wer sich mit japanischer Geschichte auskennt, weiß, dass die Japaner schon sehr früh Pornographie, sowohl in geschriebener, als auch in gezeichneter Form, für sich entdeckten – und Männer fanden lesbischen Sex halt schon immer heiß. Doch ein wenig wie der einfache Lesbenporno, war dies weder eine große Kunstform, noch für Frauen gemacht.

Und eine Sache sei deutlich gesagt: Während Homosexualität in Japan nur für eine sehr kurze Dauer während der Meiji-Restauration (mehr dazu findet ihr in meinem Beitrag zum japanischen Imperialismus) verboten war, so war die allgemeine Erwartung, dass erwachsene Frauen und Männer das andere Geschlecht zu heiraten hätten, um dann Kinder zu produzieren. Reine homosexuelle Beziehungen galten als verschmäht – jedenfalls im Erwachsenenalter.

Aus dieser Atmosphäre heraus geschah es 1911, dass zwei Mädchen von einer reinen Mädchenschule einen doppelten Selbstmord begangen. Denn die beiden waren ineinander verliebt und durften diese Liebe nicht ausleben. Sie waren natürlich nicht die ersten, die aus solchen Gründen einen Selbstmord begangen, doch es war ihr Selbstmord, der besonderes Aufsehen auf sich zog. Es war die Mischung aus Tragik und Romantik, die einige Menschen faszinierte – und es sollte Inspiration für eine Autorin werden.

Class-S

Yoshiya Nobuko war eine zu diesem Zeitpunkt bereits bekannte Autorin von japanischer Gegenwartsliteratur. Auch sie hörte von dem doppelten Selbstmord und war davon wie viele andere fasziniert. Ein Faktor darin war auch, dass sie selbst nicht heterosexuell war – sie sollte später von ihren eigenen Erfahrungen mit einseitiger, homosexueller Liebe schreiben und sprechen. Doch aus dem Selbstmord in 1911 ging die Idee für eine Sammlung von Kurzgeschichten hervor, die zwischen 1916 und 1924 veröffentlichte: Hana monogatari, Blumengeschichten.

Diese Geschichten erzählten von den oftmals homosexuellen oder zumindest homoromantischen Lieben von Mädchen – oftmals Mädchen, die reine Mädchenschulen besuchten. Viele der Geschichten endeten tragisch. Dennoch hatte Yoshiya einigen Erfolg damit und erfand darüber ein neues Genre, dass sie Class S nannte.

Wofür das „S“ in Class S stand, hat sie nie verraten. Einige Vermutungen sind: „Shojo“ (Mädchen), „Sex“ oder „Sister“. So oder so: Gegenstand des Genres waren immer junge Mädchen, die romantische Gefühle für Mitschülerinnen oder seltener auch Lehrerinnen entwickelten und diese teilweise auch in Beziehungen auslebten. Oftmals war eine Beziehung zwischen einem jüngeren Mädchen und einem älteren Gegenstand. Die Beziehungen wurden oftmals als sehr weich und fast eher queerplatonisch dargestellt. Doch bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs erfreute sich das Genre einiger Beliebtheit – vor allem in der Literatur.

Takarazuka Revue

Ein anderer großer Einfluss vor allem auf das frühe Yuri entstand allerdings ebenfalls in den 1910er Jahren – und ist bis heute aktiv: Takarazuka Revue, eine sehr bekannte Theatertruppe.

Der Hintergrund ist folgender: Bereits im 17. Jahrhundert wurde es Frauen in Japan verboten, Theater zu spielen. Das heißt, die meisten Theatertruppen von da an bestanden nur noch aus Männern, die teilweise dann eben auch die Frauenrollen spielten. Es gab einige illegale weibliche Theatertruppen, doch diese waren die Ausnahme.

Die entsprechenden Gesetze weichten sich dann Anfang des 20. Jahrhunderts aus – aber viele Theater stellten dennoch nur Männer an. In der Stadt Takarazuka kam allerdings ein Mann, Ichizou Kobayashi, auf die Idee, dass man es auch andersherum machen könnte und nur Frauen anstellen könnte. So gründete er die Theatertruppe Takarazuka Revue.

Diese begann fortan aufwändige Theaterproduktionen zu inszenieren, in denen Frauen alle Rollen spielten – auch männliche. Natürlich entsprechend verkleidet. Dies änderte allerdings nichts daran, dass diverse Produktionen dadurch einen homoerotischen Subtext bekamen, der vor allem auch ein weibliches Publikum sehr ansprach. Dies sollte mehrere Jahrzehnte später wieder zur Inspiration werden …

Von 1950 bis 1990

Class S verlor seine Beliebtheit in den 1930er Jahren, wurde teilweise während des Krieges sogar Opfer von staatlicher Zensur. So kam es, dass die Geschichte des Yuri-Genre erst nach dem Krieg weitergehen sollte. Allerdings auch nach den 1950er Jahren. Denn das einzige Beispiel aus den 1950er Jahren ist ein Manga (Sakura Namiki) in dem ein Mädchen einen kurzen Crush auf eine ältere Mitschülerin hat. 1967 kam dann Ribon no Kishi heraus, die Geschichte einer Prinzessin, die das Herz eines Jungen hatte. Darin gab es keine wirklichen romantischen Aspekte, aber dennoch einen permanenten queeren Subtext.

Der erste Manga, den wir heute wirklich als Yuri bezeichnen würden, war Shiroi Heya no Futari (Unser weißer Raum). Diese Geschichte handelte von zwei Mädchen und etwas, dass wir heute als eine „Rivals to Lovers“ Beziehung bezeichnen würden. Allerdings – wie so viele Class-S Geschichten zuvor – endete auch Shiroi Heya no Futari tragisch.

In den 1970er und 1980er Jahren kamen dann eine Handvoll weiterer Manga heraus, die heute als Yuri oder zumindest als queer betrachten würden. Diese waren Lady Oscar, Boku no Shotaiken, Claudine und Paros no Ken. Natürlich fing es zu dieser Zeit auch an, dass erneut wieder sexy lesbische Figuren für ein männliches Publikum geschaffen wurden – doch für die weibliche Zielgruppe blieb es erst einmal dabei.

Dann kam Sailor Moon

Dann aber kamen die 1990er Jahre – und sie brachten vor allem eine Erscheinung mit sich, die so viele Aspekte des Yuri-Genre beeinflussen sollte: Sailor Moon. Das schöne dabei ist: Ich muss selbst in Deutschland wohl niemandem erklären, was für ein massives mediales Phänomen Sailor Moon war, denn selbst in Deutschland war es überall.

Und Sailor Moon hatte sehr, sehr viele queere Themen – unter anderem gleich mehrere Paare zwischen weiblichen Figuren. Allen anderen voran die Beziehung zwischen Haruka und Michiru, die in den späteren Staffeln zum tragenden Element wurde. Und da Sailor Moon ein so großes mediales Phänomen war, war das Tabu auf einmal gebrochen.

Es folgten gleich mehrere Yuri Manga und Anime mit unterschiedlich großem Erfolg. Der zweite große Anime aus den 1990ern ist natürlich Revolutionary Girl Utena. Außerdem brachte auch CLAMP einige Yuri Manga heraus oder Manga mit Yuri-Themen (hier sei Card Captor Sakura genannt). Außerdem kam Ende der 1990er Maria-sama ga miteru (Maria schaut auf uns herab) heraus, der das Class-S Genre in der Form von Light Novels wiederbelebte und dann Anfang der 2000er einen Manga und Anime bekam.

Ein Markt entsteht

Diese Werke aus den 1990er zogen ein großes Fandom an – ein Fandom, das sich auch kreativ ausleben wollte. Die Folge war, dass Ende der 1990er und Anfang der 2000er mehr und mehr auch Yuri-Doujinshi auf Conventions verkauft wurden. Während dieser Markt nie so groß war, wie der Boys Love/Yaoi Markt, wuchs er Anfang der 2000er massiv an. Und wie es oft bei Doujinshi-Märkten ist, wuchsen daraus auch die ersten eigenen Werke hervor.

Wie ihr vielleicht wisst: In Japan erscheinen die meisten Manga kapitelweise in Form von Anthologie-Magazinen, die wöchentlich, zweiwöchentlich, monatlich, zweimonatlich oder quartalsweise herauskommen. Die anwachsende Szene sorgten dafür, dass 2003 gleich zwei Yuri-Magazine entstanden, die beide zweimonatlich erschienen: Yuri Tengoku und Yuri Shimai.

Zwei Jahre später kam dann das noch einmal erfolgreichere Magazin Comic Yuri Hime heraus. Da zu diesem Zeitpunkt sich auch vermehrt Yuri-Manga, die sich an ein männliches Publikum richteten, abspalteten, gab es hierzu dann auch ein Partnermagazin: Comic Yuri Hime S. 2010 wurden die beiden allerdings unter Comic Yuri Hime zusammengefasst.

Durch diese Magazine kamen nun auf einmal eine ganze Reihe von Yuri Manga hervor. Die größten, die aus dieser Phase hervorgingen, waren allerdings tatsächlich an ein männliches Publikum gerichtet, wie Strawberry Panic und Simoun.


Warum eigentlich „Yuri“?

Dies ist vielleicht der Zeitpunkt, um darüber zu sprechen, warum das Genre überhaupt „Yuri“ genannt wird. Wie schon gesagt: Die ersten Werke in diesem Bereich, hießen „Class S“, also wann hat sich der Name geändert?

Nun, dieser Name geht auf die 1970er Jahre zurück. Wie schon gesagt: Boys Love und Yaoi sind explizit an Frauen gerichtet, allerdings gibt es auch schwule Manga und Light Novels, die spezifisch von Männern für Männer gemacht werden. Diese nannten sich „Bara“ (Rose). So hieß auch eins der größten Schwulenmagazine in den 1970er Jahre Barazoku (der Rosenklan). Yuri bedeutet „Lilie“ – sie sind in Japan ein Symbol für Reinheit, Unschuld und Schönheit und werden als sehr feminin gelesen. Und so bezeichnete der Redakteur Itō Bungaku in einem Artikel Lesen als Yurizoku (der Lilienklan), nachdem eine Kolumne für Leserinnenbriefe im Magazin schon vorher den Titel Yurizoku no Heyan (Raum des Lilienklans) hatte. Von da an blieb der Begriff einfach haften. Als in den 1980er Jahren die Zeitschrift Alan eine Kommunikationsspalte für Lesben einführte, nannten sie diese Yuri Tsūshin (Lilienkommunikation). Fortan war Yuri einfach ein Wort, um „lesbisch“ zu umschreiben.

Als dann in den 1990er Jahren vermehrt lesbische Doujinshi herauskamen, bekamen diese „Yuri“ als Genrebezeichnung und so wurde es dann zur Bezeichnung für sämtliche lesbische Geschichten in Manga. Und ja, es sei an dieser Stelle deutlich hervorgehoben: Während schwulen Manga in Boys Love/Yaoi und Bara geteilt sind, gibt es diese Teilung bei Yuri nicht. Lesbisch pornographische Manga, die an ein männliches Publikum gerichtet sind, sind genau so „Yuri“, wie softe Class S Geschichten, die sich an ein junges, weibliches Publikum richten.

Lesbisch in Japan

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal hervorheben, dass Japan ein sehr konservatives Land mit extrem rigiden Geschlechterrollen ist. Davon habe ich bereits in meiner Rezension zu Run Away with me, Girl berichtet. Während es häufig als „normal“ angesehen wird, dass Schülerinnen lesbische Beziehungen miteinander haben, wird von ihnen erwartet, dass diese Beziehungen mit dem Schulabschluss enden und sie dann früher oder später eine heterosexuelle Beziehung beginnen, idealerweise um dann irgendwann Kinder zu bekommen und Hausfrau zu werden. Auch heute arbeiten nur knapp über 50% der erwachsenen, japanischen Frauen im erwerbsfähigen Alter.

Hierzu kommt allerdings auch, dass weibliche Homosexualität in Japan nicht als „richtige Sexualität“ wahrgenommen wird. Dies ist etwas, dass wir in gewisserweise ja auch aus dem Westen kennen. Die kurze Fassung ist: Weil bei cis weiblicher Homosexualität kein Penis involviert ist, der irgendetwas penetrieren kann, ist es also kein richtiger Sex. Das spiegelt sich auch darin wieder, dass das Genre Yuri genannt wurde – was halt die Symbolik von Reinheit und Unschuld mit sich bringt.

Genau deswegen muss man sagen, dass Manga, die eben dem Class S Narrativ folgen manchmal einen fahlen Beigeschmack haben, selbst dann, wenn sie nicht tragisch enden. Denn ein wenig versteckt ist dabei auch die Nachricht: „Ja, in der Schule ist das okay, aber später dann nicht mehr.“ In dieser Hinsicht wird es häufig an Mädchen als ein friedliches Alternativ zu heterosexuellen Romanzen verkauft, da es ohne einen fordernden Mann auskommt.

Yuri heute

In den letzten Jahren hat sich viel getan im Bereich Yuri. Ein großer Grund dafür ist natürlich das Internet. Nicht nur, dass Informationen über Homosexualität weitreichender zugänglich sind und es speziell auch für queere Menschen einfacher ist, eine Community zu finden, auch haben Social Media Seiten wie Twitter und Artshare Seiten wie Pixiv dafür gesorgt, dass sich Yuri-Materialien noch leichter verbreiten lassen. Dies hat dafür gesorgt, dass das Genre sich in den letzten Jahren deutlich weiter diversifiziert hat.

Noch immer gibt es Class S Geschichten – und diese machen auch weiterhin einen großen Anteil des Genres aus, sind aber eben nicht alles. Tatsächlich gibt es auch eine ganze Reihe lesbischer und anders queerer Manga, die beispielsweise aus eigenen lesbischen Erfahrungen heraus geschrieben wurden. Der bekannteste hier mag wohl Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit sein. Auch Manga, die sich mit realen queeren Erfahrungen in Japan beschäftigen, gibt es nun einige. Hier seien noch einmal Run Away with me, Girl genannt, aber auch Bokura no Hentai.

Es sei allerdings auch gesagt, dass aus dieser Diversifikation des Genre aktuell auch einige „Dark Romances“ hervorgegangen sind, die leider viele der Genretypischen Probleme mit sich bringen, wie Non-Con/Dub-Con und ähnliches. Allen voran sei hier Citrus genannt.

Dennoch: Das Yuri-Genre wird aktuell zusehens Größer – so sehr, dass man es mittlerweile sogar in Deutschland merkt und einige Buch- und Comichandlungen sogar zwei oder drei Regalreihen mit Yuri-Manga füllen können.


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Das Beitragsbild stammt von Unsplash.