Dekolonialisierung der Phantastik: Europäische Narrativen
In dieser Weblogreihe rede ich viel über verschiedene Tropes und Einfärbungen der Phantastik, die sich direkt oder indirekt auf den Kolonialismus und den damit einhergehenden Eurozentrismus zurückführen lassen. Doch an sich geht Kolonialismus noch weiter, denn auch die Art, wie wir Geschichten an sich erzählen, ist sehr kolonialisiert.
Ein Disclaimer zum Anfang
Ich muss diesen Beitrag mit einem besonderen Disclaimer anfangen, denn dieser Beitrag wird sich von den anderen Beiträgen der Reihe deutlich unterscheiden. Ich werde hier viel von eigenen Erfahrungen im Bezug auf das „Schreiben lernen“ einbringen, da ich hier selbst einen zumindest kleinen, aber deutlichen kulturellen Unterschied erlebt habe durch die Art, wie ich Schreiben gelernt habe.
Der Grund, warum ich in diesem Beitrag auch etwas eigene Erfahrung einbringen muss, ist einfach: Ich habe zwei Monate nach Quellen hierfür gesucht und sogar an Universitäten nachgefragt, aber während keiner die Existenz des Phänomens anzweifelt, gibt es einfach keine Quellen (in mir verständlichen Sprachen), die dazu weiter geforscht hätten.
Daher ist dieser Beitrag deutlich subjektiver, als die anderen, der Reihe. Aber vielleicht findet so ja jemand die Inspiration, sich näher damit auseinander zu setzen!
Universale Erzählungen?
Jeder, der sich ein wenig mit Geschichten auseinandergesetzt hat, kennt sie: Die grundlegenden Regeln, die angeblich jede Art von Erzählung beherrschen, sowie die vermeintlich universalen Erzählungen. Als Beispiel für ersteres seien die Regel, dass jede Geschichte sich um einen Konflikt drehen muss, und die Drei-Akt-Struktur genannt. Das bekannteste Beispiel für zweiteres ist „Die Heldenreise“ nach Campbell, der dazu behauptet eine universelle Regel gefunden hat, die jede Geschichte irgendwie darstellen würde.
Doch gerade Campbell, der meint Gemeinsamkeiten zwischen den Legenden und Erzählungen verschiedenster Kulturen zu erkennen, begeht zwei große Fehler: Zum einen ist er sehr selektiv darin, welche Geschichten er berücksichtigt. So sind viele der Geschichten, die er als Beispiel heranzieht, Geschichten aus indo-europäischen Kulturen, die aufgrund des geteilten kulturellen Hintergrunds natürlich Gemeinsamkeiten aufzeigen. Auch berücksichtigt er praktisch keine Geschichten, die sich um weibliche Figuren drehen. Zum zweiten hat er jedoch auch Geschichten fremder Kulturen durch eine sehr europäische Linse interpretiert – frei nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Ich würde argumentieren, dass genau diese Art, Geschichten fremder Kulturen zu betrachten, auch eine Form des Kolonialismus darstellt. Fremde Geschichten werden einem eigenen, eurozentristischen Thema angepasst, auch wenn sie diesem eigentlich gar nicht entsprechend. Geschichten, die unpassend erscheinen, werden als „irrelevant“ aussortiert.
Und diese Art Geschichten zu betrachten, zeichnet sich oftmals darin ab, wie in verschiedenen kulturwissenschaften Erzählungen betrachtet werden. Genau deswegen fehlt es auch an Quellen, die verschiedene Erzählformen unterschiedlicher Kulturen tiefergehend vergleichen.
Universelle Regeln
Der andere Aspekt sind eben die genannten universellen Regeln, wie Beispielsweise die Regeln rund um Konflikte und die Drei-Akt-Struktur. Dabei ist erste Regel – die Konfliktregel – sehr präskriptiv, zweitere deskriptiv. Auf Deutsch: Erste ist vor allem eine Regel, die einem Erzähler etwas vorgeben will. Sprich: Wenn du etwas erzählst, dann muss es einen zentralen Konflikt geben und jede Szene muss sich um einen eigenen Konflikt drehen. Zweitere Regel dagegen unterstellt, dass man praktisch jede Geschichte in drei Akte aufteilen kann.
Ich nehme diese beiden Regeln als Beispiel, weil ich selbst in meiner Kindheit und Jugend in Konflikt damit geraten bin. Dies ergab sich dadurch, dass ich durch Anime angefangen habe, mich fürs Schreiben zu interessieren und damals mit großer Begeisterung den Weblog des japanischen Autors Chiaki J. Konaka gelesen habe, in dem er über japanische Schreibtheorie gesprochen hat. Die Sache dabei: Japanische klassische Erzählungen können auch ohne zentralen Konflikt existieren und haben außerdem oftmals keine Drei-Akt-Struktur.
Während ich in der Schule noch fähig war, den Unterschied zwischen Drei-Akt-Struktur und der japanischen Vier- und Zehn-Akt-Struktur zu akzeptieren, gab es doch auch im Deutschen die Fünf-Akt-Struktur, so war es mit der Konflikt-Theorie doch anders. Denn es gibt eben auch tolle Geschichten ohne große, zentrale Konflikte – und gerade bei vielen Slice of Life Geschichten, habe ich selbst oft zentrale Konflikte als negativ und erzwungen empfunden, weil ich mir denke: Manchmal kann auch eine wholesome Freundschaft mit guter Chemie eine Geschichte sein. Wer viel Anime und allgemein asiatische Medien schaut, wird solche Geschichten auch kennen. Nur dem Westen erscheinen sie oft fremd.
Sicher kann man nun sagen, dass weil es sich in Europa so eingebürgert hat, es für europäische oder westliche Menschen schwer ist, sich mit anderen Geschichten anzufreunden. Es wirkt fremd und vielleicht sogar falsch. Dennoch wird oft so getan, als wären diese sehr europäischen Regeln allgemeingültig und als wären Geschichten, die auf anderen Regeln aufbauen, auf irgendeine Art schlechter.
Christliche Fantasy
Allerdings gibt es bei der Kolonialisierung von Narrativen – speziell auch in der Phantastik – auch noch einen Elefanten im Raum, den wir nicht außen vor lassen können: Die christlichen Narrativen und Motive. Denn wie wir schon in den geschichtlichen Beiträgen zu Beginn der Reihe etabliert haben, gehen Kolonialisierung und Christentum miteinander Hand in Hand. Zu diversen Zeitpunkten in der Kolonialgeschichte wurde die „moralische Notwendigkeit“ das Christentum zu verbreiten, als Begründung genannt, die Kolonialisierung voranzutreiben. Dies ging soweit, dass Christentum auch als Begründung für Genozid hergenommen wurde – vor allen in Amerika. Nicht unbedingt jene Art von Genozid, wo Menschen gezielt getötet wurden, sondern jene Art, wo eine Kultur ausgelöscht wird, indem die Kinder ihrer Kultur entnommen und in einer anderen Kultur erzogen werden. Hier im Christentum.
Entsprechend muss auch festgestellt werden, dass das christliche Weltbild in erster Linie ein eurozentrisches Weltbild ist. Denn das, was wir meistens mit Christentum verbinden, wurde massiv durch Rom und später andere europäische Mächte eingefärbt. Gleichzeitig färbt dieses europäisch-christliche Weltbild allerdings auch viele Geschichten und auch die modernen Darstellungen und Interpretationen unserer Mythologien ein. Immerhin wurden sowohl die keltische, als auch die nordische Mythologie Post-Christianisierung festgehalten und durch eine christliche Linse gedrückt.
Der Heilsbringer
Das erste christliche Bild, dass sich immer und immer wieder in Geschichten und dabei unter anderem auch in der Phantastik findet, ist der jesus-inspirierte Heilsbringer oder Messias. Das kann mal direkt als „Auserwählter“ von einer höheren Macht daherkommen, ist aber noch viel öfter durch Implikationen repräsentiert. Dies sehen wir am stärksten in visuellen Medien, wo nicht selten auch bildliche Parallelen zu bekannten Jesus-Bildern gezogen werden.
Das Phantastik-Genre, in dem dies am häufigsten zu sehen ist, ist das Superhelden-Genre. Schauen wir uns allein die Filme an, so sehen wir oft Held*innen (meistens männliche), die von Licht umgeben als Retter*innen erscheinen. Ebenso haben wir häufig Superheld*innen, die sich für den guten Zweck opfern und dann von den Toten zurückkehren. Gerade letzteres ist eine deutliche Jesus-Metapher, die sich immer und immer wieder findet.
Aber auch in der allgemeinen Phantastik, finden wir oft Jesus-Figuren. Das bekannteste Beispiel ist hier fraglos Aslan in Narnia, bei dem Lewis kein Geheimnis daraus gemacht hat, dass er eine Jesus-Metapher ist. Doch auch unbeabsichtigt finden wir Jesus-Eigenschaften in Fantasy Held*innen, einfach dadurch, dass das Bild der*s sich opfernden Heilsbringer*in so in unserer Kultur verankert ist, dass es unterbewusst schnell eingebracht wird.
Gut vs. Böse
Doch es gibt auch noch eine andere Idee, die für uns komplett normal wirkt, die jedoch ebenfalls aus dem Christentum und der europäisch-christlichen Kultur kommt. Und das ist die Idee von Gut und Böse. Damit ist sowohl die Idee von „Gut und Böse“ als Bewertung für Handlungen und Charaktere gemeint, als auch das Konzept, dass „Gut und Böse“ in einem konstanten Kampf miteinander stehen. (Und wer jetzt mit Yin-Yang kommt: Dass dies Gut und Böse beschreibt, ist wieder etwas, wo eine fremde Kultur durch eine europäische Linse betrachtet und bewertet wurde.)
Natürlich kann nun jeder Besserwisser feststellen, dass technisch gesehen auch die Bibel keine klare „Gut und Böse“ Einteilung gibt – doch mit der Zeit hat sich dies in den christlichen Vorstellungen etabliert, dass Satan das personifizierte Böse ist. Und gerade diese Vorstellung eines bösen Herrschers eines dunklen Reiches (oder sollte ich „ein dunkler Lord“ sagen?) ist in der Phantastik beinahe allgegenwärtig. Besonders in der High Fantasy, doch auch in anderen phantastischen Genre.
Prinzipiell ist auch sonst die Darstellung von wirklich „bösen“ Antagonist*innen sehr weit verbreitet. Seien es böse Reiche, böse Rassen (dazu gibt es bereits einen eigenen Beitrag) und einfach nur böse Figuren. Dabei ist – selbst wenn es so nicht explizit gemacht wird – die Annahme, dass die Figuren, die sich ihnen entgegen stellen „gut“ sind.
Hierbei sei doppelt angemerkt, dass diese Einteilung in „gut und böse“ selbst im Kolonialismus oft genutzt wurde, um die Vorstellung einer „bösen“ anderen Gruppe wach zu rufen.
Gewohnheit und Standards
Natürlich sei bei diesem Thema gesagt, dass es bei manchen Sachen nicht so einfach ist, sie zu durchbrechen. Viele Leute werden im Westen eine Geschichte, die ohne starke Konflikte daher kommt, als langweilig bewerten. Dies spielt sicher auch mit darein, warum wir recht wenig Literatur aus dem ostasiatischen Bereich in englischer oder gar deutscher Sprache finden – die Erzählweisen sind oft so anders, als dass Verlage nicht mit einem großen Absatzmarkt rechnen.
Dennoch ist es fraglos wertvoll, sich vor Augen zu führen, wie viel von jenen Dingen, die uns als allgemeingültig verkauft werden, eigentlich europäische Ideen sind. Wir betrachten viele Dinge aus einer vornehmlich europäischen Perspektive und haben selten die Möglichkeit, andere Perspektiven zu erleben. Besonders, wenn man nicht eine Schwäche für Anime oder andere asiatische Medien hat – die zwar auch durch den Westen beeinflusst wurden, aber auch kulturell fremde Narrativen beinhalten.
Es lohnt sich auf jeden Fall, darüber Gedanken zu machen, inwieweit eurozentrisches Denken, sowohl Schreibregeln, als auch übliche Darstellungen in Geschichten beeinflussen. Und, ja, wenn ihr in dem Bereich forscht … es wäre definitiv schön, wenn es mehr Forschung zum Thema gäbe, inwieweit sich narrative Strukturen unterscheiden und wo Kolonialismus dort eine Rolle gespielt hat.
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