Worldbuilding 101: Altsprachen und Proto-Kulturen
Im letzten Weltenbaueintrag haben wir bereits festgestellt, dass oftmals in Fantasy Länder und Regierungsformen schon „immer“ so waren, wie sie im Verlauf der Geschichte sind und entsprechende Entwicklung nur langsam voran geht. Heute möchte ich die andere Seite davon besprechen: Was sind langfristige und vorzeitige Einflüsse auf eine Kultur, wie hängen Kulturen dahingehend zusammen und wie sieht man das auch später noch an den Sprachen?
Habt ihr einmal einen althochdeutschen Text gelesen? Wenn nicht, schaut euch das hier mal an:
Ik gıhorta dat ſeggen
Ausschnitt aus dem Hillebrandlied
dat ſih urhettun ænon muotın •
hıltıbrant entı hadubrant untar herıun tuem •
ſunu fatarungo • ıro ſaro rıhtun •
garutun ſe ıro gudhamun • gurtun ſih • ıro • ſuert ana •
helıdoſ ubar rınga do ſie to dero hıltu rıtun •
Das klingt nicht besonders Deutsch, oder? Aber es ist Deutsch. Althochdeutsch eben.
Oder kennst ihr Mittelhochdeutsch? Das klang dann so:
Ein ritter sô gelêret was,
aus „Der arme Heinrich“ von Hartman von Aue
daz er an den buochen las,
swaz er dar an geschriben vant:
der was Hartmann genannt,
dienstman was er zouwe.
Gut, das klingt zumindest nahe genug an der heutigen Sprache, dass man sich herleiten kann, was dort steht.
Worauf ich hinaus will: Sprache entwickelt sich. Sprache befindet sich in einem konstanten Flux und entwickelt sich gemeinsam mit der Kultur und durch die Mischung mit anderen Sprachen. Manchmal wird sie komplizierter, öfter allerdings einfacher – weshalb es durchaus auch sein kann, dass „Das Beste, wo gibt“ irgendwann einmal als korrektes Deutsch angesehen wird. Sprache wird nicht durch Bücher definiert, sondern durch die Menschen, die sie sprechen.
Die zwei Extreme
Ich bin allerdings nicht hier, um nur über Sprachen zu reden (solltet ihr Interesse an dem Thema Sprache in Fantasy haben, kann ich dazu jedoch gerne einmal etwas schreiben), sondern generell über kulturelle Entwicklungen und wie diese Grundlage für die heutige Welt bieten und auch eine Grundlage für die vergangene Welt boten.
Denn wenn in einer Fantasywelt alte Texte gefunden werden, so gibt es oftmals nur zwei Extreme: Entweder sie sind in der auch zum im Text aktuellen Zeitpunkt gesprochenen Sprache (eventuell etwas gehobener) geschrieben oder in einer ganz anderen, vergessenen Sprache, die auch wenig mit der eigentlichen gesprochenen Sprache gemein hat, verfasst. Natürlich spielt hier mit hinein, dass nicht jeder Philologe ist – doch meistens ist die Hauptsprache ohnehin als die Sprache des Autors „übersetzt“, weshalb die einfachste Methode wäre, eben antiquare Formen der eigentlichen Sprache zu nehmen.
Doch damit fängt es nur an. Auch anderen kulturellen Aspekten fehlt dort der Hintergrund.
Das Mittelalter
Es hat einen Grund, warum ich das übliche „High Fantasy und die Welt ist effektiv das europäische Mittelalter, aber mit Elfen, Zwergen und Orks“ Format so gefressen habe. Einer der Gründe ist eben der Eurozentrismus, ein anderer aber auch, dass dieses europäische Mittelalter inklusive Bauformen, oftmals inklusive entsprechender historischer Namen, passender Bauformen und zumindest vom Mittelalter inspirierter (aber oftmals wissenschaftlich nicht funktionsfähiger) Rüst- und Waffentechnik existiert, ohne, dass eine Antike zuvor kam, ohne, dass es den christlichen Glauben oder eine vergleichbare Religion gibt, und ohne, dass es die europäischen Stämme, wie Kelten, Germanen, Pikten und dergleichen gab. Faktoren, die dazu beigetragen haben, dass das europäische Mittelalter aussah, wie es aussah.
Es wäre fraglos möglich, eine andere Antike zu haben, aus der sich das Mittelalter entwickelt, doch diese Alternative: „Eines Tages hatten alle Ritter diese spezielle Art der Rüstung und die war so toll, dass nie jemand etwas weiter entwickelte“ wirkt eben schnell etwas unglaubwürdig. Ebenso wie es eben glaubwürdig ist, dass eine Welt, die sich gefühlt permanent in einen Krieg gegen irgendwelche Mächte der Dunkelheit befindet, sich nicht weiterentwickelt.
Verschiedene Kulturen mit gemeinsamen Ursprung
Ist euch einmal aufgefallen, wie viele Kulturen und speziell Mythen, mit denen wir im Geschichtsunterricht zu tun haben, inklusive der eigenen, das Symbolbild böser Schlangen benutzen? Schlangen, die etwas Böses symbolisieren. Schlagen, die ein Teil des Weltuntergangs sind. Und dann gehen wir noch den Himmelsvater. Also einen männlichen Gott, der im Himmel sitzt und Elemente des Himmels repräsentiert und dabei wahrscheinlich auch das Oberhaupt oder eins der Oberhäupter der Religion ist.
Das ist wahrscheinlich kein Zufall. Die gängige Theorie ist, dass diese Kulturen alle auf dieselbe Kultur zurückgehen und sich die entsprechenden Mythologien einfach nur weiterentwickelt haben. Die Ursprungskultur wird meistens als die „proto-indo-europäische“ Kultur bezeichnet und man geht davon aus, dass viele europäische, nord-afrikanische und auch asiatische Kulturen von ihr beeinflusst wurden. Bspw. die ägyptische, die mesopotamische, die kanaanitische (die ihrerseits die abrahamitischen Religionen stark beeinflusste), die griechische (und damit auch die römische), aber auch die nordische. Es gibt sogar Vermutungen, dass ein Teil der Shinto-Religion einen Einfluss haben könnte, da bestimmte Elemente auch hier auftauchen.
Kurzum: Viele Kulturen haben einen gemeinsamen Kern. Und das gilt nicht nur für die Kulturen Europas, sondern auch anderswo. Götter, Aspekte von Göttern, Traditionen, Legenden und dergleichen spiegeln sich dann in ähnlichen Formen wieder.
Nicht nur religiöse Aspekte
Natürlich sind diese Aspekte nicht nur religiös. Auch kulturell gibt es zwischen solchen Kulturen diverse Gemeinsamkeiten. Zentrale Aspekte dahingehend finden sich oft in Vorstellungen des Familienlebens, wie Erbschaften festgelegt werden und auch über den Bezug zu Gender. Viele proto-indo-europäische Kulturen haben bspw. den in männlicher Linie fortgeführten Familiennamen gemein, hatten Formen von Mitgift bei Heiraten und sind tendenziell eher patriarchalisch ausgelegt.
Übrigens sind nicht alle Kulturen in Europa hiervon beeinflusst wurden. Zumindest die keltischen Kulturen hatten sehr wahrscheinlich einen anderen Ursprung – was auch ihren anderen Bezug zu Göttern, Natur und Gender erklärt. Und warum sie vielen Römern ein Rätsel mit sieben Siegeln waren, jedenfalls wenn man nach römischen Briefen geht.
Und natürlich sind auch die Sprachen beeinflusst worden und haben einen gemeinsamen Sprachstamm, selbst wenn es in den Altformen der Sprachen oft leichter ist, diese Gemeinsamkeiten zu erkennen. Denn wie eingänglich gesagt: Sprachen entwickeln sich.
Reizfragen
Wie schon häufiger gesagt: 100%iger Realismus ist dahingehend natürlich unmöglich, doch es ist hilfreich darüber nachzudenken, wie die Kultur in eurer Welt entstanden ist. Dabei ist gerade in fantastischen Welten natürlich die Möglichkeit gegeben, dass etwaig Religion wirklich durch reale Götter gegeben wurde – etwas, das auch einen Einfluss darauf haben kann, inwieweit sich die Religion ihrerseits weiterentwickelt. Auch bei benachbarten Ländern lohnt es sich oft darüber nachzudenken: Welche gemeinsamen Wurzeln gibt es? Kulturell. Sprachlich. Religiös. Wo liegen die Unterschiede und wie sind diese zustande gekommen?
Wie hat sich die Sprache entwickelt? Was waren Auslöser für die Weiterentwicklung der Sprache? Wann haben sich verschiedene Sprachen mit gemeinsamer Wurzel voneinander ausgegrenzt? Welche Sprachen sind bereits ausgestorben? Gibt es dahingehend Wissenschaftler, die sich mit der Entwicklung der Sprachen beschäftigen? Wird den alten Sprachen eine besondere (bspw. magische) Bedeutung oder Wirkung zugesprochen?
Wie ähnlich oder unterschiedlich sind benachbarte Länder in ihrer Weltsicht und Sprache bei euch meistens? Inwieweit führen diese Unterschiede zu Konflikten? Was würde generell eher zu Konflikten führen: Große oder kleine Unterschiede? Welche Vorurteile bauen auf diesen Unterschieden auf?
Was ist das Weiteste, wie eine Kultur sich in eurer Welt ausgebreitet hat und wie hat sie diese Ausbreitung verändert? Gibt es eine Gruppe, die zwar dieselbe Ursprungskultur und Sprache hatte, wie ein anderes Land, die sich jedoch durch lange Isolation in etwas ganz anderes entwickelt hat?
Was sind die Proto-Kulturen eurer Welt? Inwieweit lassen diese sich bei SciFi auf Galaxien übertragen? Welche Einflüsse merkt man bis heute noch? Wie denken die Leute über diese Einflüsse?
Das Beitragsbild wurde von Denis Vitchenko aufgenommen und unter der CC3.0 Lizenz veröffentlicht. Es stellt eine Nachbildung des Kernosovsky Idols in der Ukraine dar.