Worldbuilding 101: Kulturelle Veränderungen

Wenn wir uns Mittelerde anschauen, so lässt sich vieles über den Weltenbau sagen, doch eine Sache sticht heraus: Mittelerde hat in mehreren tausenden von Jahren zwar viele Kriege und Konflikte erlebt, doch hat sich die Struktur der Gesellschaft kaum verändert. Und dies lässt sich über viele andere fantastische Welten sagen. Sie sind monolithisch und verändern sich nicht oder nur sehr langsam.

Schnell, stellt euch eine Fantasy-Welt vor. Wie viele von euch haben prompt etwas im Kopf, wo Helden in silbern glänzenden Rüstungen zu Pferde einem Königshaus dienen und über eine weite Landschaft reiten? Vielleicht noch mit Elfen, Zwergen, Orks und Halblingen bestückt? Dank Herr der Ringe, aber auch den großen Rollenspielwerken, wie Dungeons & Dragons, sowie im Deutschen Das Schwarze Auge, sind diese Welten für viele zum Standard geworden, wenn es um High Fantasy geht. Während ich das schon seit längerem langweilig finde, möchte ich aber heute nicht über die Eintönigkeit der Welten reden – sondern darüber, wie wenig Änderungen es in ihnen gibt.

Seit tausenden von Jahren

Schauen wir uns die Welt in vielen (bei weitem nicht allen) Fantasy-Werken an, so ist es eine Welt, die so, wie sie ist, oft nicht nur seit hunderten, sondern seit tausenden von Jahren existiert. Es gibt dasselbe Königshaus seit hunderten von Jahren – eventuell mit kurzen Unterbrechungen, aber dennoch dieselbe Blutslinie. Es gibt dieselben Landesgrenzen. Es gibt dieselben Gesellschaftsstrukturen (wobei sich für die Bauern meistens niemand so wirklich interessiert). Und sofern die Welt nicht in einem religiösen Vakuum existiert, wahrscheinlich auch dieselbe, meist monolithische Religion.

Und bei Science Fiction? Nicht selten ist grob dasselbe wahr. Irgendwann wurde ein bestimmter wissenschaftlicher Standard erreicht. Das einzige, was sich in zyklischen Abständen ändert, ist das Gesicht der Regierung. Einzig Neuentdeckung neuer Planeten und Systeme spielt hier eine größere Rolle als die Landentdeckung es in High Fantasy tut.

Und, nun, wenn wir uns die Geschichte unserer Welt ansehen, ist das nicht wirklich realistisch oder glaubwürdig. Dinge ändern sich, egal wie monolithisch und beständig sich Geschichte oftmals anfühlt. Und ja, dieses Gefühl wird hier sicherlich mit hineinspielen.

Die Antike

Wenn wir (aka die Nicht-Geschichts-Studenten) an die Antike denken, denken wir oft an das alte Ägypten, an das alte Rom und an das alte Griechenland. Und spezifischer denken wir an das alte Ägypten, in dem Pyramiden gebaut und so komische Lendenschürze getragen wurden. Vielleicht auch an Mumien. Bei den alten Griechen denkt man wahrscheinlich an Philosphen, Mathematiker, Götter und eventuell an Sparta. Und bei den Römern an römische Kriege und diese ganzen vielen Kaiser, die die hatten. Und an Wolfsmütter.

Wenn jemand Assassin’s Creed: Origins gespielt hat, ist demjenigen vielleicht das Mysterium aufgefallen, dass die Gize-Pyramiden für die Charaktere darstellen. Das liegt daran, dass die Charaktere zwar im aus heutiger Sicht gesehen Antiken Ägypten liegen, aber zwischen der Zeit, in der die Pyramiden gebaut wurden und dem Zeitpunkt des Spiels mehr Zeit liegt, als zwischen der fiktionalen Handlung des Spiels und der heutigen Zeit. Die Pyramiden sind im Spiel bereits über zweitausend Jahre alt. Die Ägypter haben effektiv bereits mehr als tausend Jahre schon mit dem Bauen von Pyramiden aufgehört.

Und während das nur eine historisch recht leicht nachvollziehbare Änderung im alten Ägypten war, gab es auch gesellschaftlich immer wieder Entwicklungen. Wer sich mit der ägyptischen Mythologie auskennt, weiß, dass es auch verschiedene einander ablösende Religiöse Strömungen gab, die teilweise sogar mythologisch eingeflochten wurden. Man erinnere sich nur an die Zeit, als Isis Ra austrickste und danach für eine Weile die Götter regiert hat.

Und wer sich durch die griechische oder römische Geschichte liest, wird schnell feststellen, dass es dort ebenso große, gesellschaftliche Umstellungen gab. Etwas, das bei so langer Zeit und der beständigen Veränderungen von Grenzen und damit auch das Einbeziehen anderer Kulturen kaum ausbleibt.

Das Mittelalter

Noch so eine Zeit, zu der es oft die Vorstellung einer rigiden, sich kaum ändernden Kultur haben, in der es praktisch keine Weitentwicklung gab, ist natürlich das Mittelalter – das eben auch gerne aus Backdrop für fantastische Geschichten dient. Auch wenn wir in der Schule darüber lernen, was sich nicht alles im Mittelalter entwickelt hat, so ist eben oftmals doch das Bild des beständigen „Da gab es Könige, und die waren irgendwie alle miteinander verwandt und dann hatten die Ritter und die haben auch mal miteinander gekämpft und deswegen haben die Leute ja auch in Burgen gelebt und die Franzosen und die Briten mochten sich nicht“ hängen geblieben, unabhängig davon in wie vielen Punkten es der Realität nicht entspricht.

Schauen wir uns aber solche Zeitraffer an, wie es sie zu vielen auf YouTube gibt, so sehen wir, dass sich sehr vieles verändert hat. Grenzen wurden neu gezogen und damit haben sich auch hier Kulturen gemischt. Und dass es diverse Konflikte zwischen Königshäusern gab, Konflikte innerhalb der Kirche und bezogen auf Religion, gemeinsam mit entsprechenden religiösen Abspaltungen ist ebenso bekannt. Auch die Art, auf die Kriege geführt wurden, haben sich verändert, genau so, wie sich Farmtechniken verändert haben.

Und damit es nicht ganz so eurozentrisch ist: Ähnliches lässt sich bspw. auch über Asien sagen, wo wir in China und Japan recht viel dokumentierte Geschichte haben. Man denke nur an die vielen Male, das China als Reich zerbrochen ist und sich dann doch wieder vereinigt hat.

Gründe für Veränderung

„Geschichte gut und schön“, mag nun der ein oder andere sagen, „aber in meiner Welt gibt es gar keinen Grund für die Gesellschaft, sich zu verändern!“ Und genau da möchte ich häufig wiedersprechen.

Zuerst einmal: Während Gründe gut und schön sind, so wird es auch ohne konkrete gesellschaftliche Gründe irgendwelche Leute geben, die neue Ideen mit sich bringen, wie sie beispielsweise ihr Leben etwas vereinfachen können, die Gesellschaft in ihren Augen besser machen und beispielsweise gerechter machen könnte.

Beispielsweise sind verschiedene Rassen in Fantasy-Welten oftmals sehr getrennt voneinander. Elfen leben in Wäldern, Menschen in Städten und Zwerge im Berge. Während es vielleicht Handel zwischen den verschiedenen Gruppen gibt, sehen wir in diversen Fantasy-Geschichten halt eine klar getrennte Gesellschaft. Aber wozu braucht es einen Grund, warum einzelne Gruppen von Elfen und Zwergen in die Städte ziehen wollen und nie ein Mensch versucht, unter Elfen zu leben – sofern sie nicht von diesen aufgezogen werden. Natürlich macht Fantasy-Rassismus Sinn, aber eben auch andere Einstellungen. Vor allem wenn es angeblich seit tausenden von Jahren so ist.

Aber dann haben wir noch das große Thema: Kriege. Denn Kriege sind immer in der Menschheitsgeschichte eine große Treibkraft für technologische Entwicklung. Das gilt zum einen für Waffen und Rüstungstechnik, aber auch für Dinge wie Medizin, Feldbestellung und Transport. Denn wollen Kriegsmächte nicht nur bessere Waffen, sondern auch besser versorgte und gesündere Truppen haben wollen.

Mögliche Entwicklungen

Was könnten nun aber konkrete Entwicklungen sein, die innerhalb einer Welt sein? Nun, allein wenn wir nach Geschichte gehen, könnte es dort eine Vielzahl geben. Vielleicht bleibt einfach in einem Königshaus der Thronfolger aus, weshalb entweder die Regeln umgeschrieben werden müssen oder jemand anderes an die Macht kommt. Vielleicht wird aber auch der König abgesetzt – gewaltsam oder nicht – und eine Demokratie, Oligarchie oder andere Regierungsform geschaffen.

Vielleicht gibt es ein Ereignis, dass Leute ihre Religiösen Ansichten hinterfragen lässt oder gar eine gänzlich neue Religion einführt, was sich ebenso auf die gesellschaftliche Ordnung auswirken kann, wenn beispielsweise eine bestimmte Religion die Regierung oder das Königshaus stützt.

Vielleicht wird auch ein neues Medikament gefunden (ob mundan oder magisch), das eine einflussreiche Krankheit förmlich auslöscht und dadurch zu einem enormen Gesellschaftswachstum führt. Oder es wird eine neue Möglichkeit zur Pflanzenzüchtung gefunden oder um sich fortzubewegen.

Vielleicht ziehen aber auch immer mehr Leute aus irgendeinem Grund in dieselbe Gegend, so dass bestimmte Kulturen einander annähren. Ob dies zu neuen Konflikten, zu einer neuen Kultur oder etwas ganz anderem führt … Nun, vieles ist möglich.

Fragen zur Anregung

Um wie im letzten Weltenbau-Eintrag noch einmal ein paar Fragen zur Anregung mitzugeben, gibt es heute eine kleine Liste:

  • Wie ist der Alltag des Protagonisten anders im Vergleich zum Alltag seiner Eltern, als diese in seinem Alter waren?
  • Wann wurde die letzte Regierung gegründet, bzw. der letzte König gekrönt? Was machen sie/macht er anders, als die Vorgänger?
  • Wann haben sich das letzte Mal die Grenzen eines Reiches verändert?
  • Was war die letzte große neue Entdeckung (egal ob Ort oder Wissenschaft), die in der Welt gemacht wurde?
  • Wie hat sich die Vorstellung von einer idealen Familie in den letzten 10, 50, 100, 200, 500 Jahren verändert?
  • Wie hat sich die Einstellung zu Homosexuellen, Transgender* und anderen LGBTQ* Minderheiten verändert?
  • Wie haben sich die geschlechtsspezifischen Rollenbilder in den letzten 100 Jahren verändert?
  • Was sind große medizinische Veränderungen der letzten 100 Jahre? Wie hat sich das auf den Lebensstandard ausgewirkt?
  • Wie hat sich die Sprache der Menschen in den letzten 10, 50, 100, 200, 500 Jahren verändert?
  • Wie viele Kriege wurden in den letzten 100 Jahren geführt und was für Änderungen haben diese politisch und für das einfache Volk mit sich gebracht?
  • Was beeinflusst, welche Kleidung getragen wird, und wie viel Änderungen gibt es bzgl. Kleidung und Mode?
  • Wann haben sich das letzte Mal zentrale Ausrichtungen in einer großen Religion geändert?
  • Wann wurde das letzte Mal eine große Religion durch eine religiöse Reformation gespalten?
  • Wie hat sich in den letzten Jahren oder Jahrzehnten das Verhältnis zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen geändert?
  • Gab es in den letzten Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten eine große Völkerwanderung? Wie wurde diese ausgelöst und was für gesellschaftliche Veränderungen hat sie mit sich gebracht?
  • Sollte es verschiedene fantastische Rassen (wie Elfen, Zwerge etc.) geben: Was hat sich in den letzten Jahren und Jahrhunderten in deren Politik und in deren Umgang miteinander und mit etwaig existierenden Menschen geändert?
  • Müsstest du die letzten zehn Jahrzehnte in den verschiedenen Reichen deiner Welt beschreiben: Was wären die fünf Worte, die du für jedes Jahrzehnt nutzen würdest?

Zum Abschluss

Einfacher gesagt: Versucht bei euren fantastischen Welten darüber nachzudenken, was gesellschaftliche, politische und auch technologische Entwicklungen in der Welt sind und wie häufig diese passieren sollten. Behaltet dabei vor allem auch im Kopf, dass Entwicklungen, wenn es Leuten schlecht geht, beschleunigt werden, da die meisten Leute nun einmal anstreben werden, dass es ihnen weniger schlecht geht. (Ich schaue hier sämtliche bösen Imperien, die dennoch für hundert Jahre und mehr ungehindert bestehen, während Leute hungern und gefoltert werden, an. Die werden allerdings ein Thema für ein anderes Mal sein.)

Denkt darüber nach, wohin sich die Gesellschaft auch durch die Ereignisse der eigentlichen Handlung entwickeln wird und wie diese später geschichtlich betrachtet werden könnte. Und ja, denkt auch darüber nach, wie diese Gesellschaft so überhaupt zustande gekommen ist – was jedoch auch der Punkt des nächsten Eintrags sein wird.

Das Beitragsbild wurde von Ricardo Liberato aufgenommen und unter der CC2.0 Lizenz geteilt.