Weltenbau 101: Alltag & das einfache Leben
Ich habe lange überlegt, wie ich das Thema Worldbuilding hier im Blog anfange. Eigentlich wollte ich praktisch von Macro zu Micro gehen, aber letzten Endes habe ich mich anders entschieden. Denn es gibt ein Thema, dass ich eigentlich mit für das wichtigste am ganzen Worldbuilding halte – und das gleichzeitig das Thema ist, was sehr viele Fantasy- und SciFi-Werke komplett übergehen. Alltag. Oder auch: Das normale Leben.
Das normale Leben
In vielen Fantasy und SciFi Welten kann man Abenteuer erleben, aber man kann nicht normal leben. Und das spiegelt sich vor allem in dem wieder, was oftmals im Herzen der Geschichte steht: Den Charakteren.
Alltag ist auch das, was viele große, bekannte Werke irgendwie auslassen oder zumindest zum Teil auslassen. Immer wieder fällt mir Herr der Ringe ein. Die Hobbits, die haben Alltag. Die haben eine Kultur. Die haben normale Leben. Aber alle anderen? Was machen die Leute in Rohan so, außer Pferde reiten? Was ist der neuste Tratsch in Minath Tirith? Was machen die Dunedain den ganzen langen Tag so? Und was ist mit den Elfen und Zwergen? Von allem, was wir erfahren, hat man den Eindruck, dass die Elfen den ganzen Tag total künstlerisch veranlagt sind, wenn gerade nicht Krieg ist, während die Zwerge den ganzen Tag Minen bearbeiten, Schmieden und Saufen.
Die Sache ist: Die meisten Charaktere sind nicht immer Abenteurer gewesen. Es ist in vielen Fantasy-Geschichten so, dass die Charaktere einen Alltag haben, ehe sie in ihr großes Abenteuer gezogen werden. Und dieser Alltag prägt sie. Dieser Alltag ist oftmals auch das, wozu sie zurückkehren wollen. Er repräsentiert den Frieden, für den gekämpft wird. Aber genau das ist alles schwer zu verstehen, wenn man ihn nicht kennt.
Mehr noch: Ohne Charaktere, die im Hintergrund ihrem normalen Alltag nachgehen, wirken die Welten oftmals sehr gestellt. Es wirkt nicht natürlich. Selbst in Krieg gibt es viele Dinge noch, die einfach dazu gehören: Kochen. Tratsch. Soziale Dinge. Kultur in irgendeiner Form. Und damit meine ich nicht die „10 wichtigsten literarischen Werke“ der Welt, sondern eher das, was ein normaler Bürger so auf welche Art auch immer konsumiert.
Weltenbau vs Geschichtsunterricht
Ich habe eine gute Theorie, woher es kommt, dass genau diese Dinge vernachlässigt werden. Wir sehen nämlich auch Geschichte auf ähnliche Art. Wenn wir in welchem Kontext auch immer Geschichte betrachten, sehen wir nur Rangfolgen von Königen, große Kriege, Reichserweiterungen, Untergänge von Kaiserreichen und die Gründung neuer Länder. Eventuell sind wir noch über ein paar Sachen aus dem religiös-spirituellem Informiert. So grob haben viele auf dem Schirm, dass die Kelten und Norden recht viel mit Feiertagen rund um Sonnenwenden am Hut hatten und dass der altägyptische Kalender vom Nil abhängig war. Aber mehr?
Es denkt kaum jemand darüber nach, wie der normale Bürger im alten Rom seinen Tag verbracht hat, wie ein nordischer Weber die Zeit totgeschlagen hat, worüber Bauernfrauen im alten Ägypten getratscht haben und was für Hobbys Kinder im alten China hatten. Fakt ist aber, dass genau das das Leben für die meisten Leute ausgemacht hat.
Vor allem im geschichtlichen Kontext finde ich es immer wieder interessant, wenn man sich anstatt mit der großen „Geschichtsschreibung“ mit Briefen und Graffiti beschäftigt. Ich empfehle immer wieder: Schaut euch die Graffiti aus Pompeii an. Es ist super spannend und lässt Pompeii auf einmal viel wirklicher wirken, viel mehr wie ein Ort, wo Leute wirklich gelebt haben. Da schreiben Jugendliche rüde Sprüche an Wende und ein Mann bedroht Venus dafür, dass sie ihn mit einer unerfüllten Liebe gestraft hat. Da steht viel über Sex, Alkohol, Sport und Liebschaften. Und Leute schreiben: „XY war hier!“
Eine eingelebte Welt
Das Problem, das ein Mangel an Alltag in einer Welt hat, ist eben, dass der Leser oder allgemein gesprochen „Endkonsument“ schnell das Gefühl bekommen kann, dass sich die ganze Welt nur um den Plot der Story dreht. Egal wo die Charaktere hinkommen, scheint sich alles nur um den Krieg, die Drachen, die was auch immer zu drehen. Allerhöchstens wird noch getrunken. Getrunken und ganz eventuell noch ein Kartenspiel oder vergleichbares gespielt und ab und zu gibt es einen Feiertag. Doch abseits davon?
Was meine ich damit? Nun, es fängt bei normalen Jobs an. Was für Jobs gibt es überhaupt in der Welt? Wie werden diese ausgeführt? Wie sieht der Arbeitsalltag aus? Was macht man, wenn man seinen Job nicht macht? Wie werden diese Jobs erlernt? Wer lernt welche Jobs? Sprich: Kann man sich entscheiden, welchen Job man ausüben wird? Werden Jobs innerhalb der Familie weitergegeben? Wie wirkt sich das auf Charaktere aus? Geht man in eine Schule? Gibt es Schulpflicht? Wie lange geht Schule? Ferien? Wie steht man allgemeinhin zur Schule? Was lernt man? Wer bestimmt, was man lernt? Mit welchem Ziel lernt man?
Wie sieht es mit Arbeitslosen aus? Obdachlosen? Wo leben Bewohner einer Welt normal? Wie ist das eingerichtet? Wie viel Zeit wird am Tag „Zuhause“ verbracht?
Was macht man, wenn man nicht arbeitet? Wie wird sich amüsiert? Gibt es Sport? Gibt es Sportteams? Reist man eventuell zu Sportveranstaltungen? Gibt es Fandoms irgendeiner Form? Gibt es Jugendkultur? Worüber unterhalten sich Leute auf der Arbeit und in ihrer Freizeit so? Worüber streiten sie? Was macht man in seiner Freizeit allgemein (außer Alkoholkonsum und Sex)? Was ist der übliche Klatsch und Tratsch? Wie wichtig ist „Mode“ in irgendeiner Form?
Wo geht man normalerweise einkaufen? Was wird eingekauft, was selbst geschaffen? Was „braucht“ man einfach im Haus? Gibt es irgendwelche Luxusgüter? Wer stellt diese her und wie kommt man dran?
Was ist mit Haustieren? Gibt es Haustiere? Wie steht man dazu? Werden diese wie Familienmitglieder oder eher wie Nutztiere behandelt?
Was für Medien werden konsumiert? Wie werden Nachrichten und andere neue Informationen konsumiert und übermittelt? Wie viel bekommt der normale „Bürger“ mit und wie schnell? Wie wichtig ist es den meisten? Wie politisch engagiert ist Otto Normalbürger?
Aber auch: Inwieweit spielen Alltagssexismus, Alltagsrassismus und Alltagsqueerfeindlichkeit eine Rolle im Leben der normalen Menschen? Was gibt es dahingehend? Wie beeinflusst es das Denken der Menschen?
Die Fragen könnte man beliebig weiter ergänzen. Die Sache ist eben, dass diese Dinge den normalen Charakter und das was im Hintergrund passiert mehr beeinflussen werden, als wer gerade irgendwo regiert und was die Kleriker den lieben langen Tag so machen. Es ist auch relativ naheliegend, dass tatsächlich auch irgendwelche Religionen allgemein den Alltag gar nicht so sehr beeinflussen, sofern es keinen guten Grund dafür gibt. Ja, etwaig werden die Menschen unterschwellig gläubig sein und ab und zu Kirchen, Tempel oder ähnliche heilige Orte aufsuchen, doch es sollte eine Frage sein, inwieweit für normale Bürger die Gläubigkeit weiter geht.
All diese Dinge helfen vor allem auch, sich stärker dessen bewusst zu sein, was den Hauptcharakter geprägt hat. Achtet dabei auch darauf, dass eurer Hauptcharakter, sollte er „anders“ denken als die meisten um ihn herum, einen Grund hat, so anders zu sein. Zum Beispiel, dass er Quellen hat, um Informationen über seine Welt zu hinterfragen.
Solltet ihr ein historisch inspiriertes Setting schreiben, ist es definitiv einen Tipp wert, nachzuschauen, wie das zu der inspirierenden Zeit so ausgesehen hat. Wie gesagt, auch historisch ist Alltag oft total unterrepräsentiert. Aber zu vielem gibt es dankbarerweis Briefe. Briefe sind toll! Lest Briefe. Und Tagebücher.
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