Urban Fantasy Review: Wellenbrecher
Ich habe versprochen, ein wenig mehr Bücher aus der deutschen Buchbubble zu rezensieren – um genau zu sein deutsche Urban Fantasy. Auch wenn das Buch in einer eher ländlichen Gegend spielt, geht es mit Wellenbrecher von Roxane Bicker weiter.
CN: Sexuelle Übergriffigkeit, Polizei
Worum es geht
Nach einem nicht genauer erläuterten Vorfall wurde Polizistin Philippa Berger aus der Großstadt auf die kleine Nordseeinsel Medderoog versetzt. Das ist nicht nur ein gewaltiger Kulturschock für sie, sondern auch allgemein frustrierend für sie. Immerhin war sie nicht diejenige, die an dem Vorfall in der Großstadt die Schuld trug.
Doch gerade, als Phil ein paar Tage auf Medderoog ist, wird dort ein Skelett in einem kleinen Waldstück gefunden. Obwohl es ganz danach aussieht, als wäre hier ein Verbrechen geschehen, scheinen sowohl der Bürgermeister, als auch Phils Kollegen bei der Polizei entschlossen, das ganze unter den Teppich zu kehren. Das kann Phil nicht einfach so akzeptieren.
Also macht sie sich daran, selbst die Ermittlungen zu ergreifen. Dabei ist das nicht so leicht, während alle anderen entschlossen sind, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Auch wird es nicht einfacher, da Henk, einer der Männer auf der Insel, alles daran setzt, sie und ihre Ermittlungen aufzuhalten.
Und dann ist da noch Harpo. Eine Altenpflegerin, in die sich Phil Hals über Kopf verliebt.
Rural Fantasy auf den friesischen Inseln
Diese Geschichte bringt ein wenig wieder die Frage mit sich wo Urban Fantasy anfängt und endet. Immerhin spielt es nicht in einer Stadt, doch wie ich bereits länger erklärt habe, ist das nicht zwangsläufig eine Voraussetzung für Urban Fantasy. Allerdings sind die fantastischen Elemente in dieser Geschichte relativ subtil. Hier wird keine große Magie durch die Gegend geworfen, auch wenn es natürlich dennoch magische Elemente gibt. Viel eher könnte man darüber diskutieren, ob die Geschichte nicht eher in das Genre des Magical Realism/Fabularismus einzuordnen wäre.
In erster Linie ist die Geschichte auf jeden Fall dem Genre Mystery/Krimi zu verorten. Denn zentral geht es um eine polizeiliche Ermittlung – selbst wenn diese unter der Hand passiert. Dazu kommt ein wenig lesbische Romanze.
Was ein wenig Schade ist, ist die Tatsache, dass Henk, als der Hauptantagonist, sehr eintönig ist. Er wirkt nicht wie jemand mit besonders tiefgehenden Motivationen und wirkt eher wie ein Antagonist, der da ist, um halt ein Antagonist zu sein. Ihn hätte man doch ein wenig weiter ausbauen können.
Aufbau und Stil
Zuerst einmal das Positive zum Aufbau: Der auslösende Moment passiert bereits im Prolog. Das heißt, die Geschichte verbringt nicht viel Zeit mit irgendeinem Vorgeplänkel, um dann erst irgendwann später in die Handlung zu kommen. Das Skelett wird im Prolog gefunden, Phil erfährt im ersten Kapitel davon und fängt prompt an zu ermitteln. Das ist sehr positiv und steht auch im klaren Gegenstück zum letzten rezensierten Buch hier.
Was vom Aufbau leider ein wenig stört, ist dass der zweite Akt sich sehr in die Länge zieht. Er macht etwa 60-70% des Buchs aus, was einfach zu lang ist. Das gilt vor allem, da die Lösung des Falls dank Genrezuordnung und auch dem Cover des Buchs leider sehr offensichtlich ist. Entsprechend wartet man als Leser*in ein wenig darauf, dass auch Phil auf diese Lösung kommt.
Die andere Seite der Medaille bezüglich des Aufbaus, ist, dass der dritte Akt auch hier sehr kurz ist, so dass sich hier die Handlung förmlich überschlägt. Das geht leider zu Lasten der Charakterentwicklung, die hier teilweise sehr sprunghaft passiert. Ohne großes Brimborium ändern Figuren auf einmal ihre komplette Einstellung und Konflikte werden einfach so aufgelöst, ohne wirkliches Drama. Das ist ein wenig schade. Da hätte man mehr herausholen können.
Der Stil liest sich alles in allem sehr gut und flüssig. Nur ab und an gibt es kleinere Stolpersteine, die wohl beim Lektorat untergegangen sind. Dies gilt vor allem für zwei Stellen mit Rückblenden, in denen mehrfach zwischen Plusquamperfekt und Präteritum gewechselt wird, obwohl alles im Plusquamperfekt hätte sein müssen. Darüber bin ich arg gestolpert.
Ansonsten hatte ich persönlich weniger Gefallen daran, bei einem Personalerzähler dennoch direkte Gedanken in Ich-Perspektive einzuschieben. Allerdings ist das fraglos mein persönlicher Geschmack und damit etwas, woran sich nicht jeder stören wird.
Weltenbau
Normal schreibe ich in meinen Urban Fantasy Rezensionen auch etwas zum Weltenbau der Geschichte, was hier allerdings sehr schwer ist. Denn wir erleben die Geschichte aus der Perspektive von Phil, die erst bei knapp 60% der Geschichte überhaupt erst erfährt, dass es magische Elemente gibt – und damit arg zu kämpfen hat.
Entsprechend erfahren wir auch bis zum Ende nicht viel mehr über die magischen Elemente und was es mit ihnen genauer auf sich hat. Es werden Hinweise gegeben und zwei, drei Sachen erklärt, doch daraus den Weltenbau zu bewerten ist schwer.
Eine Sache ist mir allerdings
negativ aufgefallen. Da diese allerdings ein Thema ist, dass erst
gegen Ende der Geschichte besprochen wird, findet ihr es zwei
Sektionen tiefer und den „problematischen Sachen“.
Diversity
Über Diversity sprechen ist immer etwas schwer, wenn es sich um eine Geschichte mit einem recht kleinen Cast handelt.
Zuerst das positive: Phil selbst ist lesbisch, landet in einer lesbischen Beziehung, niemand stirbt und es gibt dahingehend auch ein Happy End. Damit haben wir auf jeden Fall queere Repräsentation in dem Buch drin.
Ansonsten gibt es allerdings nicht wesentlich mehr Repräsentation. Technisch gesehen könnte man darüber sprechen, dass es disability Repräsentation gibt, weil ein dementer Charakter im Rollstuhl vorkommt – doch diese Figur wird eben dank der Demenz kaum als eigenständige Figur behandelt und handelt nicht wirklich.
BI_PoC gibt es in dieser Geschichte nicht. Das mag durchaus realistisch ob des Settings sein, doch ein wenig schade ist es trotzdem.
Die problematische Seite
In diesem Abschnitt muss ich ein wenig etwas spoilern, selbst wenn das meiste recht offensichtlich ist.
Kommen wir aber zu zwei, drei Elementen, die mir als problematisch im Kopf geblieben sind.
Das erste ist das offensichtlichste: Es geht um Polizist*innen. Und ja, in einer Post-BLM Welt ist das nun einmal problematisch. Es gibt keine guten Polizist*innen, weil die ganze Institution Polizei nun einmal problematisch ist. Zwar kommt erst ein wenig das Gefühl auf, dass die Polizei in Kritik stehen soll und Phil eine der wenigen guten Polizist*innen ist, die gegen das System arbeiten, doch dadurch, dass der Polizeichef und alle anderen am Ende einen plötzlichen Sinneswandel haben, geht das ein wenig unter.
Das wird nicht dadurch besser, das Phil mehrfach im Buch gegen das Gesetz verstößt, meistens, in dem sie in irgendwelche Häuser einbricht. Dies wird unreflektiert so dargestellt. Schlimmer wird es noch dadurch, dass sie irgendwann darüber nachdenkt, dass sie ja eine gute Polizistin sei, die nicht gegen Regeln verstößt. Da saß ich nur da und dachte mir: Ähm, nein?
Auch ein wenig problematisch fand ich eine der Interaktionen zwischen Harpo – dem Love Interest – und Phil. Dort streichelt Harpo eine schlafende Phil, die sie gerade erst kennengelernt hat. Dies findet Phil toll, aber wenn wir es mal neutral betrachten, ist es sehr grenzüberschreitend, da Phil kein Einverständnis gegeben hat. Wäre es eine Aktion von einem Mann gewesen, wäre dies fraglos als übergriffig wahrgenommen worden.
Zuletzt ist allerdings der große Spoiler, weil es sich um das Ende dreht: Es wurden Meerjungfrauen gekidnapped und auf die Insel gebracht, zwangsverheiratet und effektiv vergewaltigt. Es wird erklärt, dass eine Meerjungfrau sich nicht länger in ihre Fischform verwandeln kann, wenn sie einmal Sex hatte … allerdings hat Harpo keine Probleme, ihre Fischform anzunehmen, nachdem sie Sex mit Phil hatte. Das impliziert, dass lesbischer Sex kein „richtiger“ Sex ist. Das hinterlässt einen besonders bitteren Nachgeschmack. Vielleicht habe ich das nur falsch verstanden, doch dadurch, dass impliziert wird, dass Harpo sich nicht mehr verwandeln könnte, wenn Henk sie vergewaltigt, ist es deutlich das Gefühl, das aufkommt.
Triggerwarnungen
Wie immer gibt es zuletzt noch die Triggerwarnungen für das Buch. Innerhalb des Buchs gibt es leider keine Triggerwarnungen, dafür aber auf der Seite der Autorin. Diese übernehme ich, selbst wenn ich noch zwei Punkte ergänzt habe:
- Demenz
- Entführung
- Gewaltsamer Tod
- Konsum von Alkohol, Drogen, Zigaretten
- Körperflüssigkeiten
- Körperliche Gewalt
- Polizeigewalt
- Schusswaffen
- Selbstmord
- Sexismus
- Sexuelle Gewalt
- Tod durch Ertrinken
- Tod durch Schusswaffen
- Trauma / PTBS
- Übergeben
- Vergewaltigung
- Vulgäre Sprache
Fazit
Für mich persönlich ist wirklich das größte Problem mit diesem Buch, dass die Protagonistin eine Polizistin ist und dass dies in der heutigen Welt unschöne Assoziationen mit sich bringt. Es sei natürlich gesagt, dass sich diese Geschichte, wie sie ist, nicht ohne Polizei hätte erzählen lassen. Dennoch lässt es einen unguten Nachgeschmack bei sich.
Davon abgesehen lässt sich das Buch lesen und hat vor allem nicht das Problem so vieler deutscher Fantasy-Büchern (den überlangen ersten Akt), selbst wenn die Struktur trotzdem nicht ganz perfekt ist.
Es ist allerdings schön zu sehen, eine lesbische Beziehung als Hauptromanze in der Geschichte zu haben. Davon haben wir immer noch zu wenig. Insofern: Wer nach schönen, queeren Geschichten sucht, ist hier genau richtig.
Allgemein ist es definitiv eins der besseren Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe – selbst wenn ich noch genug Kritikpunkte finde. Insofern gibt es durchaus eine Kaufempfehlung, allerdings mit der Warnung, dass ein paar Aspekte trotzdem problematisch sind.