Urban Fantasy Review: Kondorkinder
Das erste Mal in der Geschichte des Blogs habe ich ein Buch von einem Verlag für die Rezension bekommen. Das Buch? Kondorkinder – Das Spiegelbuch der verlorenen Geschichten. Ein Urban Fantasy Roman, der zu großen Teilen in Peru spielt.
Worum es geht
1757 – Der junge Yawar wird von Fremden überrascht, die auf einmal in seinem Dorf auftauchen. Sie haben ein Buch bei sich, das sie ihm übergeben wollen. Das Spiegelbuch, so erklären sie ihm, das Buch der verlorenen Geschichten. Er soll der neue Hüter des Buchs werden, doch seine Mutter will dies verhindern. Als sie das Buch zerstört, wird sie verflucht und Yawar muss sich, um sie zu retten, auf eine Reise begeben und lernen, ein neues Buch herzustellen.
Im 20. Jahrhundert taucht ein seltsames Buch in der Sammlung der Unibibliothek Berlins auf. Als Matteo das Buch versucht wegzuschmeißen, um seine ehemalige Studienkollegin Malinka zu ärgern, landet der Fluch des Buches auf ihm. Der Fluch wird ihn töten, wenn er keine Möglichkeit findet ihn zu lösen.
Malinka, die sich ohnehin nach Peru zurücksehnt, macht sich mit ihm auf den Weg in das südamerikanische Land, aus dem das Buch kommt. Hier hoffen sie eine Möglichkeit zu finden, den Fluch zu lösen, der nun auf Matteo gelandet ist.
Urban Fantasy in Peru
Kondorkinder ist zum einen Urban Fantasy und zum anderen historische Fantasy, denn die Handlung ist in zwei Aspekte unterteilt: Zum einen die Reise von Matteo und Malinka durch das moderne Peru, zum anderen die Geschichte von Yawar und später auch Isabel, die im 18. Jahrhundert stattfindet und eng mit der Erzählung der Gegenwart verwebt ist.
Die Geschichte kommt dabei den Themen dieses Blogs durchaus entgegen, dreht es sich doch zentral um Dekolonialisierung, beziehungsweise Versuchen gegen den Kolonialismus anzukämpfen. Die Kondorkinder, nach denen das Buch benannt ist, sind eine Rebellengruppe, die für den Erhalt der indigenen peruanischen Kultur kämpfen.
Zentral in diesem Kampf sind dabei nun einmal auch die Geschichten und Legenden der präkolumbianischen Anden. In viele kolonialisierten Gebieten war der Kampf zum Erhalt der Kultur auch ein Kampf darum, die oral überlieferten Geschichten zu erhalten – was sich in dieser Geschichte widerspiegelt. Immerhin ist genau das die Aufgabe des Spiegelbuchs und seines Hüters: Die verlorenen Geschichten aufzeichnen und so erhalten.
Aufbau und Stil
Die Abschnitte von Vergangenheit und Gegenwart wechseln sich ab. Sprich: Ein Kapitel ist Vergangenheit, das nächste Gegenwart, das wieder nächste erneut Vergangenheit und so weiter. Das bringt natürlich seine eigenen Herausforderungen mit sich, da idealerweise beide Geschichten einen ähnlichen Verlauf haben sollten, was hier allerdings nicht gegeben ist. Während die Vergangenheitsgeschichte eine klassische Drei-Akt-Struktur hat, fehlt in der Gegenwart ein bisschen der dritte Akt. Das Ende kommt hier sehr schnell und sehr plötzlich.
Dennoch hat mich das Buch auf jeden Fall sehr früh bereits gefesselt und ich habe lange kein Buch mehr so schnell durchgelesen, obwohl es mit seinen 550 Seiten definitiv auf der längeren Seite angesiedelt ist. Aber ich habe es im Verlauf von sechs Abenden durchgelesen, was denke ich auf jeden Fall für das Buch spricht.
Auch stilistisch lässt sich das Buch sehr gut lesen. Ich bin hier über keine Sätze gestolpert, wie es bei vielen der anderen Bücher der Fall ist – und habe mich außerdem sehr gefreut, das verwendete Plusquamperfekt zu sehen. Insofern gibt es hier wirklich wenig auszusetzen.
Was ich allerdings weniger schön fand: Im Gegenwartsteil der Geschichte wechselt die Perspektive zwischen Malinka und Matteo, aber Malinka hat weitaus mehr Abschnitte aus ihrer Perspektive. Das ist deswegen unschön weil – gelinde gesagt – Matteo ein ziemliches Arschloch ist und auch sehr, sehr wenig Entwicklung durchmacht, jedenfalls aus Malinkas Perspektive. Da wird seine innere Welt gerade im letzten Abschnitt kaum erfahren, kommt wirklich das Gefühl auf, dass er keine Entwicklung hat – und ihm für die Arschigkeit am Ende einfach magisch verziehen ist. Das war weniger schön.
Weltenbau
Wie auch schon bei Wellenbrecher, handelt es sich bei Kondorkinder um ein Buch, wo es relativ wenig über den Weltenbau zu sagen gibt. Denn statt eine für Urban Fantasy klassische Welt zu haben, in der es geregelte Abläufe, verschiedene Strukturen und geheimes Wissen gibt, ist es halt einfach nur so, dass Mythologie oder zumindest die peruanische Mythologie real ist.
Das heißt es gibt die peruanischen Berggottheiten – die apu – sowie ihre Diener – die mallku – in der Realität, genau so wie es Zauber und Flüche gibt und natürlich in Form des Spiegelbuchs auch zumindest ein mächtiges magisches Artefakt. Aber eben keine Zauberer oder magischen Kreaturen im klassischen Sinne des Genre.
Was ich ein wenig schade fand: Auch die verlorenen Geschichten sind magische Kreaturen. Zumindest ein Teil von ihnen. Sie existieren als eine Art schattenhafte Tiere in der Welt und können magisch vom Spiegelbuch aufgenommen werden. Dies fand ich deswegen schade, da es ein wenig vom Aspekt der oralen Kultur wegnimmt und dem Kampf gegen die versuchte Auslöschung dieser.
Diversity
Der Aspekt, in dem das Buch von mir massive Abzüge bekommt, ist allerdings in Sachen Diversität. Das Buch ist nicht nur extrem cisheteronormativ, es ist auch ein großer Teil der relevanten Figuren weiß. Aus dem Hauptcast von vier Figuren – Yawar, Isabel, Malinka und Matteo – sind drei weiß. Yawar ist der eine zentrale nicht-weiße Charakter.
Auch ist ausnahmslos jede Figur cishetero, jedenfalls wenn wir nach dem Text gehen. Yawar und Isabel werden ein Paar und es fühlt sich auch so an, als ob zwischen Matteo und Malinka etwas laufen könnte. Letztere beide haben jeweils eine erwähnte ehemalige Beziehung, die jedoch in beiden Fällen heterosexuell ist.
Natürlich kommen vor allem in der Gegenwartserzählung diverse indigene und nicht-weiße Nebenfiguren vor, aber diese sind eben das: Nebenfiguren, die dazu dienen, den beiden weißen Protagonisten weiterzuhelfen. Das ist halt einfach keine besonders gute Darstellung und wäre definitiv besser möglich gewesen.
Die problematische Seite
Wie immer: Dieser Abschnitt erhält Spoiler auch für das Ende des Buchs
Neben der extremen Heteronormativität des Buches, gibt es allerdings noch eine andere Sache, die mir sehr, sehr übel aufgestoßen ist. Und das ist Yawars Tod.
Etwa nach zwei Dritteln des Buchs stirbt Yawar auf brutale Art und Weise dafür, dass er und Isabel sich ineinander verliebt haben. Sprich: Der eine zentrale nicht-weiße Charakter der Geschichte stirbt. Der eine indigene Charakter in einer Geschichte, die indirekt um indigene Rebellion handelt, stirbt. Brutal. Um durch seinen Tod weiße Figuren zu motivieren.
Denn sicher, die Vergangenheitserzählung dient auch als Erklärung des Ursprungs des Spiegelbuchs und seiner Mythologie, doch am Ende ist es vorrangig doch Isabels Geschichte, in der Yawar einfach nur da ist, um ihr – einer weißen Frau – einen Bezug zu dieser indigenen Rebellenbewegung zu geben und sie zu motivieren, sich des Spiegelbuches anzunehmen, was am Ende der Hintergrund dafür ist, wie das Spiegelbuch am Ende in Deutschland und damit in den Händen zwei weiterer weißer Figuren landet.
Das war einfach nur sehr, sehr unschön. Verschlimmert wird es eben dadurch, dass die indigenen und nicht-weißen Figuren, die in der Gegenwart auftauchen, ausnahmslos Plotdevices sind, um die beiden weißen Protagonisten auf ihrem Weg voran zu bringen. Dies wird umso unschöner dadurch, dass jeder indigene Charakter sich top mit Flüchen, Magie und apus auskennt. In der gesamten Gegenwartserzählung kommt überhaupt nur eine Figur (bzw. eine Gruppe von Figuren) in Peru vor, die nicht an Flüche und apus glauben. Das ging mir zu sehr in die Richtung des Tropes „magische Indigene“, denn genau der Eindruck wurde vermittelt: Alle indigenen Menschen sind magisch oder haben zumindest Ahnung von Magie.
Triggerwarnungen
Das Buch verfügt über eine Liste an Triggerwarnungen ganz vorne, was natürlich wieder zu loben ist. Wie allerdings auch schon bei der letzten Rezension bin ich so frei an dieser Stelle ein paar Dinge zu ergänzen – selbst wenn diese im Kontext tatsächlich als ein Spoiler aufgefasst werden können. Dennoch halte ich es nur für fair, sie hier mit aufzuzählen.
- Gewalt (u.a. auch gegen junge Erwachsene)
- Gewalt gegen Tiere (explizit)
- Krankheit
- Körperliche Misshandlung
- Misshandlung durch Eltern
- Mobbing
- Schwangerschaft (erwähnt)
- Rassismus gegen indigene Völker
- Diskriminierung
- Bürgerkrieg
- Folter und Hinrichtung (erwähnt)
- Tod einer relevanten Figur
- Tod einer indigenen Figur
- Entführung
- Gefangenschaft
Fazit
Wie vielleicht ein wenig zu erkennen ist: Ich bin bei diesem Roman hin und her gerissen. Denn auf der einen Seite hat er mir von Aufbau und Stil sehr gefallen und hat mich wirklich gefesselt. Auf der anderen Seite habe ich aber auch einige Probleme, wie beispielsweise die Art, wie Matteo dargestellt wird, und eben auch zum Teil der Umgang mit den vorkommenden indigenen Figuren.
Das macht es ein wenig schwer zu sagen, wie ich dieses Buch empfehlen kann. Denn es ist definitiv ein sehr gutes Buch – aber ich wünschte mir eben diese Dinge wären anders gehandhabt worden. So, wie es aktuell ist, bin ich mir recht sicher, dass dieses Buch definitiv einige betroffenen Leuten sehr missfallen wird, weshalb ich keine allgemeine Empfehlung aussprechen kann.
Entsprechend: Es ist ein wirklich gutes Buch, allerdings hat es ein paar Probleme, gerade was sensiblere Themen angeht. Ich denke, das wichtigste Indiz dahingehend ob dieses Buch etwas für euch ist, sollte die Liste der Triggerwarnungen sein. Wenn ihr darin etwas findet, dass euch übel aufstößt, ist das Buch wahrscheinlich weniger etwas für euch. Ist dies nicht der Fall, kann ich euch das Buch empfehlen.