Kurzgeschichte: Die Hexe und der alte Geist

Ach je, jetzt ist es passiert. Jetzt bin ich bei einer Geburtstagsgeschichte verspätet, weil ich es gestern einfach vergessen habe. Mir ging es leider soweit nicht so gut und da ist es ein wenig untergegangen. However, Charley Quinn hatte gestern Geburtstag – und als eine der Personen, die ich am allerlängsten kenne, kriegt sie natürlich auch eine Geschichte. Gewünscht war Solarpunk mit Magie.

Tags: Solarpunk, Urban Fantasy, Disability
CNs: Erwähnung von apokalyptischen Ereignissen

Miriam fand den kleinen Laden, während sie durch die neue Stadt stromerte. Der Laden war ganz am Rand der Innenstadt, außerhalb der Fußgängerzone. Zwischen einem Fahrradweg und einem ehemaligen Bürogebäude fiel das altmodische Gebäude definitiv auf. Natürlich, für die Stadt war es nicht ungewöhnlich. Hier gab es viele alte Läden, doch speziell in dieser Nachbarschaft wirkte der kleine Blumenladen etwas deplatziert. Die Feen, die in seinem Garten flatterten, verstärkten diesen Eindruck nur.

Miriam konnte sich nicht helfen, neugierig zu sein. Eigentlich gehörte sie nicht zu den Leuten mit einem grünen Daumen, um nicht zu sagen, dass ihr Daumen braun bis schwarz war. Dennoch wäre vielleicht ein kleiner Kaktus genau das richtige für ihr Studentenzimmer.

Am Ende waren es jedoch vor allem die Feen, die ihre Neugierde erweckten.

Sie öffnete die hölzerne Tür, die eine kleine Glocke schellen ließ.

„Herzlich willkommen“, rief ihr eine freundliche, weiche Stimme entgegen. Eine Frau, die sicher nicht viel älter als sie war, saß hinter einem Tresen und las ein altes, in Leder gebundenes Buch. Ihre Haare waren blond und lockig, lagen in zwei Zöpfen über ihre Schultern.

„Hallo.“ Miriam war unsicher. Nicht zuletzt auch, weil sie sich nicht komplett sicher war, ob sie wirklich eine Pflanze kaufen wollte.

Auch hier drin flatterte es an verschiedenen Ecken. Zwei der kleinen Feen mit schillernden Flügeln saßen bei der Frau und schauten in das Buch mit hinein. War die Frau vielleicht eine Magierin?

Nein, das war wahrscheinlich nur ein Vorurteil. Immerhin liebten Feen einfach Pflanzen. Also war es nicht so ungewöhnlich, dass sie sich hier niedergelassen hatten. Ungewöhnlicher war nur, dass die Frau sich so wohl um sie herum fühlte.

Miriams Blick wanderte über die Pflanzen, die hier auf Tischen und Regalen standen. Dabei kam sie nicht umher ein weiteres Regal, voll mit kleinen gläsernen Fläschchen zu entdecken. Sie hatte sofort eine Vermutung, was es sein könnte. Wieder stach da ihre Neugierde und sie ging auf das Regal zu.

Die Fläschchen waren mit Flüssigkeiten in verschiedensten Grüntönen gefüllt. Daran klebten kleine Schilder. „Erhaltungstrank“, „Befeuchtungstrank“, „Wachtstumstrank“. Also wirklich: Zaubertränke.

Unwillkürlich drehte Miriam sich zu der Frau um. Dann war sie doch eine Hexe?

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Frau nun.

Miriam zögerte. „Das sind Zaubertränke, nicht?“

„Ja. Um dem grünen Daumen etwas nachzuhelfen.“ Die Frau zwinkerte.

Verlegen lachte Miriam. „Also genau das, was ich brauche.“

Daraufhin lächelte die Frau. Sie schlug ihr Buch zu und senkte dann die Arme. Einen Moment später kam sie hinter der Theke hervor – in einem Rollstuhl.

Rasch erinnerte sich Miriam daran, nicht zu starren. Dennoch überraschte es sie. Es war einfach nicht, was sie erwartet hatte.

„Haben Sie Pflanzen zuhause?“, fragte die Frau nun.

„Nein. Ich habe eben den grünen Daumen nicht. Aber … Ich hatte überlegt, ob ich mir etwas für mein Zimmer hole. Irgendetwas, das nicht zu interessiert daran ist, direkt zu sterben.“

„Also etwas wie ein Kaktus oder eine Sukkulente?“

„Ja, an so etwas in der Art hatte ich gedacht.“ Miriam schaute sich noch einmal in dem kleinen Laden um. Tatsächlich standen auf einem der Tische eine Reihe der widerständigen kleinen Pflanzen. Sie ging dorthin hinüber und die Frau folgte ihr.

Sie nahm eine der Kakteen in die Hand. „Diese hier sind sehr widerstandsfähig. Und wenn man sie nicht zu sehr wässert, dann entwickeln sie auch schön Blüten.“

„Das klingt gut.“ Unsicher nahm Miriam die Pflanze entgegen.

Auch die Feen waren auf sie aufmerksam geworden, umschwirrten nun ihren Kopf, während sie sich leise keckernd unterhielten.

Der Kaktus war in einem kleinen Gefäß, ein wenig breiter als er selbst. Darum hing eine Kordel mit einem Schild: 5 Euro. Das war wirklich nicht zu viel.

„Die Zaubertränke?“, fragte sie dann. „Die sind echt?“

„Ja, alle Hausgemacht“, antwortete die Frau.

Miriam schluckte, konnte sich die Frage nun aber nicht verkneifen. „Dann sind Sie eine Hexe?“

„Ja, so könnte man das sagen.“ Die Frau schenkte ihr wieder ein Lächeln. Als sie Miriams unsicheren Gesichtsausdruck bemerkte, setzte sie nach: „Wieso? Ist damit etwas nicht in Ordnung?“

„Nein“, erwiderte Miriam. „Es ist nur so, dass ich bisher keine Hexen kennengelernt habe.“ Jedenfalls nicht wirklich. So war das wohl, wenn man als absolutes Dorfkind in die große Stadt zog.

Für einen Moment begutachtete die Frau sie. „Nun, dann hast du jetzt eine Hexe kennengelernt. Ich spezialisiere mich, wie man sich denken kann, in Pflanzenmagie.“

Miriam nickte bloß. „Das ist … cool.“ Ein besseres Wort dazu fiel ihr nicht ein. „Ich fürchte ich bin einfach nur komplett nicht magisch.“

Die Frau lachte. „Das ist auch in Ordnung.“

Ja, das war es wohl. Nicht, dass sie eine Wahl darin hatten.

Auch wenn man es offiziell als „die Wende“ bezeichnete, hatte das Ereignis online einen anderen Namen bekommen: Die magische Apokalypse. So sprach man von dem Ereignis vor 15 Jahren, als die Menschen hatten realisieren müssen, dass sie die ganze Zeit in einer Welt voller Magier*innen, Monster, Geister und Gött*innen gelebt hatten, als die alten Göttheiten wieder erwacht waren und die Landschaft so stark verändert hatten. Einige ehemaligen Städte waren nun wieder Wälder, wie es sie es vor tausenden Jahren gewesen waren – und selbst in den verschonten Städten fanden sich in verschiedenen Ecken Bäume, die über Nacht erschienen waren.

Miriam war zu jung, um sich wirklich an die Zeit vor der magischen Apokalypse zu erinnern. Sie war vier gewesen, als es geschehen war. Allerdings konnte sie sich sehr wohl an den Schrecken ihrer Eltern erinnern, als die Fernsehsender die neuen Landschaften zeigten und über Tage hinweg die Ansprache des Gottes Loki immer wieder überstrahlt worden. Denn all das war sein Plan gewesen.

Die Sache war: Obwohl sie es als Apokalypse bezeichnet hatten, war es gar nicht so apokalyptisch. Denn auch wenn im Rahmen der Ereignisse – vor allem durch das Erwachen der alten Götter – einige Menschen gestorben waren, so hatte ohne Frage ihr Erwachen auch die Natur wieder ins Gleichgewicht gebracht. Gerodete Wälder hatten sich erholt, das Meer war so sauber, wie seit hunderten von Jahren nicht mehr und Wirtschaft und Handel hatten sich grundlegend verändert. Die Menschen arbeiteten weniger als früher und es waren viele Entscheidungen getroffen worden, die Besserungen mit sich gebracht hatten – auch wenn es meistens war, um die Rache der Gottheiten zu verhindern.

So waren Magiewirkende schon immer ein Teil von Miriams Leben gewesen und doch nicht wirklich. Sie wusste, dass es sie gab, aber ihre Eltern hatten ihr verboten, zu einschlägigen Läden zu gehen oder sich mit diesen Leuten zu treffen. Als ihre Grundschulfreundin, Binni sich in der Pubertät als Werwölfin herausstellte, hatten ihre Eltern ihr den Kontakt verboten. Dafür war Miriam ihnen bis heute wütend. Immerhin war Binni immer noch Binni gewesen – Wolf oder nicht.

Nun goss sie fasziniert den „Blühungstrank“ in den kleinen Terrakottatopf, in dem ein Kaktus gepflanzt war. Dieser hatte zumindest die vergangene Woche in dem kleinen Studentenzimmer überraschend gut überlebt. Vielleicht kein Grund, besonders stolz zu sein – aber bei ihrem üblichen Glück war Miriam es doch.

Sie hoffte, dass der kleine Kaktus überleben sollte. Auch wenn sie nicht vorhatte, ihn als Waffe einzusetzen, sollte ein „Bösewicht“ etwas „Ungezogenenes“ sprechen. Aber immerhin stand er ja auch nicht auf einem Balkon.

Ihr Blick glitt aus dem Fenster heraus. Direkt gegenüber gab es so einen Fall von einem Gebäude, das von der vermeintlichen Apokalypse heimgesucht worden und nun von Pflanzen überwuchert war. Dies sollte eigentlich bedeuten, dass auch dort ein Geist oder eine Gottheit lebte – doch angeblich hatte diesen niemand je gesehen.

Nach zwei Wochen waren an dem Kaktus bereits drei wunderschöne rötliche Blüten zu sehen. Also schien der Zaubertrank schon zu wirken – nur, dass er mittlerweile aufgebraucht war.

So machte Miriam sich an einem Nachmittag zwischen zwei Vorlesungen auf den Weg zurück zum magischen Blumenladen. Sie war dankbar, dass sie ihn relativ schnell fand, war doch ihr Orientierungssinn nicht besonders ausgereift. Allerdings hörte sie die keckernden Feen bereits von weitem.

Wieder klingelte die kleine Glocke über der grün gestrichenen Eingangstür, als Miriam diese aufschob, und wieder schaute die Hexe auf.

„Hallo“, sagte sie und lächelte Miriam entgegen. „Und, wie geht es dem Kaktus?“ Offenbar erkannte sie sie.

Gerade war die Hexe dabei, mehrere Säcke mit Erde auf ihren Schoß zu packen, wahrscheinlich, weil diese irgendwoanders hingeräumt werden mussten.

„Dem Kaktus geht es soweit gut.“ Miriam lächelte. „Komme ich ungelegen?“

„Nein, alles gut“, antwortete die Hexe. „Mein Helfer Sebastian ist nur krank. Deswegen muss ich mich selbst darum kümmern. Aber für Kundschaft ist immer Zeit.“

Miriam nickte abwesend und beobachtete, wie die Hexe einen vierten Sack auf ihren Schoß hievte und dann ihren Rollstuhl in Richtung einer Tür hinten im Laden bewegte, diese öffnete und dann dadurch verschwand.

Dabei konnte Miriam nicht umher den Drang zu verspüren, helfen zu wollen. Dies war jedoch wahrscheinlich aufdringlich – und säße die Frau nicht im Rollstuhl, hätte sie diesen Drang sehr sicher nicht. Deswegen biss sie sich auf die Unterlippe und ging zu dem Regal mit den Zaubertränken.

Ob es überhaupt gesund für den Kaktus war, ihm weiter Blütentränke zu geben? Immerhin war es wahrscheinlich anstrengend für die kleine Pflanze, dauerhaft zu blühen.

Wieder ging die Tür auf und dieses Mal kam die Hexe dadurch. „So, was kann ich für dich tun?“

„Der Blütentrank ist mir ausgegangen“, erklärte Miriam. „Deswegen wollte ich neuen holen. Beziehungsweise, ich weiß nicht, ob es gut wäre, noch mal welchen zu holen.“

Die Hexe schüttelte den Kopf. „Das wäre es tatsächlich nicht. Eine Pflanze kann nicht dauerhaft blühen. Das wäre nicht gut für sie.“

Bedächtig nickte Miriam. „Okay …“

Nun kam die Hexe zu ihr herüber. „Kann ich sonst etwas für dich tun?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Miriam. „Also ich mache mir immer noch Sorgen, dass der Kaktus irgendwie stirbt.“

Ein Schmunzeln war ihre Antwort. „Also es ist schon schwer, so einen Kaktus schnell umzubringen. In der Regel überleben die sogar, wenn man über ein Jahr vergisst, sie zu gießen. Solange sie ihren Topf haben, geht es denen meistens gut.“

Auf daraufhin nickte Miriam. „Ich soll mir also weniger Sorgen machen.“

„Ja“, antwortete die Hexe. „Und für den Notfall kann ich sogar einen Wiederbelebungstrank für den Kaktus brauen.“

Sowas ging? Immerhin hatte Miriam gehört, dass Magie totes nicht wiederbeleben konnte. Aber vielleicht war es mit Pflanzen anders, waren diese doch weniger komplex in ihrer Struktur, als ein Mensch oder ein Tier es war. Oder es würde ein Zombie dabei herauskommen, denn zumindest online gab es Gerüchte, dass es diese wirklich gab. Sie schauderte.

„Was ist?“ Die Hexe schien neugierig.

„Ich habe mich nur gefragt, ob das dann einen Zombiekaktus ergibt.“

Das brachte die Frau zum Lachen. „Nein, keine Sorgen. Es ist nur so, dass Pflanzen weitaus länger leben, als Menschen es ihnen zugestehen. Und solange noch Leben in der Pflanze ist, kann ich helfen. Also kein Zombiekaktus.“

„Das beruhigt mich.“ Miriam grinste verlegen.

Die Frau musterte sie von der Seite. „Du hast bisher wenig mit Magie zu tun gehabt, oder?“

„Ich fürchte nicht, nein. Ich hatte nur einmal eine Freundin, die ein Werwolf ist, aber das war’s.“

„Ich verstehe.“ Die Frau packte die Seitengriffe des Rollstuhls, um sich zu drehen. „Wenn ich sonst nichts für dich tun kann, würde ich …“

„Kann ich vielleicht helfen?“, rutschte es Miriam heraus. „Ich meine, wenn ihr Angestellter nicht da ist … da ist das sicher viel Arbeit.“

Nun drehte die Hexe sich wieder zu ihr um. „Kannst du denn schwere Sachen tragen?“

Ein wenig beleidigt fühlte sich Miriam von dieser Frage schon. Immerhin machte sie Kraftsport und man sah es ihr auch an. „Ja, sicher“, antwortete sie daher.

Die Hexe musterte sie von oben bis unten und schien zu überlegen. Wenigstens war sie offenkundig ob des Angebots nicht beleidigt. „Du bist Studentin, oder?“

„Ja“, antwortete Miriam. „Erstes Semester.“

„Heißt das, du brauchst einen Studentenjob?“

So hatte Miriam das eigentlich gar nicht gedacht. Doch auf der anderen Seite … Sie sah sich in dem kleinen Blumenladen um. Es wäre zumindest ein entspannter Arbeitsplatz – abgesehen vom beständigen Keckern der Feen. Was nur ihre Eltern sagen würden, wenn sie erfuhren, dass sie in einem magischen Laden arbeitete? Nun, eigentlich mussten diese es ja nicht wissen. Deswegen nickte sie. „Ja. Eigentlich schon.“

„Ich kann dir nicht mehr als zwölf Euro die Stunde zahlen.“

„Das wäre in Ordnung“, antwortete Miriam.

Die Hexe nickte. „Okay. Dann geh nach hinten. Da habe ich Arbeitskleidung.“ Sie hielt inne. „Ich heiße übrigens Sandra.“

„Miriam“, erwiderte Miriam. Ein wenig überfordert fühlte sie sich schon. Doch zwölf Euro mehr konnte sie gebrauchen.

Bei ihrer Arbeit in Sandras Blumenladen lernte Miriam schnell mehr Dinge über die magische Welt, als sie es in der Schule getan hatte. So lernte sie, dass es einen Unterschied zwischen aktiven Zaubern und Ritualzaubern gab – zweitere waren es, die in Tränke und Talismane gebunden wurden – und das ein Zaubertrank nicht ewig seine Wirkung behielt. Sie lernte auch dass Feen in großen, Familiaren Familienverbänden lebten und Eier legten, was sie so nicht gänzlich erwartet hatte. Es erklärte allerdings die Vielzahl der kleinen, geflügelten Kreaturen, die im und um den Laden herumlebten.

Die Arbeit selbst war häufig tatsächlich schwer. Immer wieder musste sie schwere Sachen, wie Säcke mit Blumenerde und große Terrakottatöpfe durch den Laden schleppen. Allerdings hatte sie auch Aufgaben, wie das tägliche Gießen der Pflanzen und das Räumen der Auslage.

Gesamt kam sie sieben Stunden in der Woche in den kleinen Laden. An den Tagen, an denen Lieferungen kamen, war sie mit Sebastian gemeinsam dort.

Als sie an einem verregneten Donnerstagabend in den Laden kam, wartete Sandra bereits auf sie.

„Es tut mir leid, dass ich so spät bin.“ Miriam zog die Kapuze ihres Regenmantels von ihrem Kopf. „Das Wetter …“

„Alles in Ordnung“, erwiderte Sandra, die gerade bei einem Kunden stand.

Miriam wollte das Gespräch nicht stören und verzog sich in das Hinterzimmer des Ladens, das gleichzeitig als Lager für Erde und Töpfe und auch als Aufenthaltsraum diente. Rasch zog sie sich hier ihre Regenjacke aus und dafür eine der Arbeitsschürzen über. So bekleidet kam sie aus dem Hinterraum heraus.

Sandra war gerade damit beschäftigt, einen Blumenstrauß zusammen zu stecken. Offenbar auf den Wunsch des Kunden, der nun bei der Theke stand.

Da Miriam nicht wusste, was sie heute tun sollte, blieb sie an der Tür und wartete, bis Sandra fertig war. Dabei kam sie nicht umher die Fähigkeiten der Hexe zu bewundern. Blitzschnell Schnitt sie die unseren Enden der Blumen ab und fasste sie zu einem wunderschönen Strauß zusammen, steckte dann noch ein wenig hölzerne Zierden hinein. Dann umfasste sie ihn kunstvoll mit Papier und reichte ihn dem Kunden.

„Vielen Dank“, sagte dieser und nahm den Strauß an.

Es wurde gezahlt und der Mann verließ den Laden.

Dann drehte sich Sandra zu Miriam um. „So, jetzt müssen wir mal schauen, was du heute machen kannst.“

Miriam musterte sie. „Könntest du mir nicht auch beibringen, wie man solche Sträuße steckt? Ich meine, dann könnte ich dabei auch mal helfen, wenn mehr Kunden da sind oder so.“

Für einen Moment überlegte Sandra. „Ja, wieso eigentlich nicht. Solange dein vermeintlicher brauner Daumen dann nicht auf die Sträuße überspringt.“ Sie zwinkerte ihr zu.

„Ich hoffe nicht.“ Miriam lächelte verlegen.

Kurz sah Sandra zur Ladentür und den Fenstern daneben. Draußen goss der Regen wie aus Kübeln. Wahrscheinlich würde es später auch noch gewittern. Vielleicht eine angenehme Abwechselung nach der letzten, heißen Woche.

Nun kehrte Sandra zur Theke zurück, neben der auf einem mehrstufigen Tisch auch die Blumen für die Gestecke in Kübeln standen. „Dann komm mal her“, sagte sie.

Der Tisch war ungewöhnlich tief, die oberste Stufe nicht besetzt, da Sandra sonst nicht an die Blumen herankam.

„Also, das wichtigste, was du für Gestecke wissen musst, ist, dass die Blumen farblich zusammenpassen müssen. Außerdem darfst du nicht zu viele Blumen nehmen, sonst wirkt der Strauß oder das Gesteck am Ende überladen. Eine gute Mischung zwischen Blumen und grünen Auffüllern ist das beste.“

Miriam nickte. Sie trat hinter Sandra und hörte zu, während diese ihr die wichtigsten Dinge erklärte. Zum Beispiel, wie man die Blumen anschnitt, damit sie länger frisch blieben, und wie man sie am besten beim Zusammenstecken fasste.

„Magst du es einmal probieren?“, fragte Sandra schließlich.

„Okay.“ Miriam schaute unsicher zu den Blumen. Besonders viele waren es nicht mehr – immerhin war es ja bereits Abend. Sie überlegte ein wenig, welche Pflanzen sie nehmen konnte, entschied sich schließlich für gelbe Gerberas als Hauptblume, mit ein paar Chrysanthemen dazu. Wie Sandra es gesagt hatte, füllte sie das ganze mit grünen Elementen auf, damit die Blumen besser in den Vordergrund treten konnten.

Sandra beobachtete sie dabei ruhig und ohne Kommentare abzugeben – etwas, das Miriam deutlich verunsicherte.

Schließlich band sie den Strauß zusammen, jedoch noch ohne Papier darum zu packen. Sie wollte dieses nicht verschwenden. Dann zeigte sie ihn Sandra. „Und?“, fragte sie unsicher.

„Das ist schon nicht schlecht“, antwortete Sandra. „Aber was möchtest du mit dem Strauß sagen?“

Verdutzt schaute Miriam sie an. „Sagen?“

Sandra seufzte. „Das habe ich wohl vergessen zu erwähnen. Weißt du: Blumen haben eine Bedeutung. Ich meine, es ist durchaus nicht komplett falsch. Gerbera stehen für Lebensfreude, Chrysanthemen für Glück. Das passt also durchaus zusammen. Auch können Gerbera Freundschaft bedeuten, Chrysanthemen die Offenheit für eine Beziehung jedweder Art. Also könntest du es so auslegen.“

Nun grinste Miriam verlegen. „Das war so natürlich geplant.“

Sandra schenkte ihr ein wissendes Lächeln. „Natürlich. Jedenfalls solltest du das auch lernen, wenn du Sträuße machen willst.“

„Verstehe.“ Miriam schaute auf ihren Gelben Strauß. „Aber ist das so wichtig? Ich meine, am Ende ist es nur Aberglaube, oder?“

Sandra schüttelte den Kopf. „Wir sind in einer Welt, in der Aberglaube real ist. Alles, woran nur genügend Menschen glauben ist wahr. Damit auch die Wirkung der Blumen.“

Miriam sah abends häufig zu dem leerstehenden Gebäude gegenüber dem Studentenwohnheim hinüber. Der große Baum, der sicher über fünfzehn Meter hoch war, war einfach in der Mitte durch das Gebäude hindurch gewachsen, hatte seine Etagen einfach gesprengt. Da niemand es aber wagte, den so gewachsenen Bäumen näher zu kommen, hatte auch niemand den Schutt um den Baum herum beseitigt.

Manchmal versuchte Miriam etwas zwischen den Blättern des Baums zu sehen. Irgendetwas, das magisch war. Aber soweit hatte sie nichts gesehen. Scheinbar war es einfach nur ein Baum.

Dahin glitten ihre Gedanken auch ab, als sie an einem Samstagmorgen für eine junge Frau einen Strauß zusammensteckte, den sie einem schwangeren Freund schenken wollte. Mittlerweile war sie besser darin geworden, sich an die Sprache der Blumen zu erinnern. Weiße Chrysanthemen und Gipskraut waren das richtige für eine Schwangerschaft. Im Englischen wurde Gipskraut sogar „Baby’s Breath“ genannt.

Dass sie beim Blumenstecken besonders von den kleinen Feen umgeben war, die sogar ab und an einzelne Pflanzen anreichten oder begeistert auf einzelne zeigten, um sie als Vorschlag zu machen, war sie mittlerweile gewohnt.

Die Tür ging auf und Sandra kam herein. Sie war einige Besorgungen machen gefahren, hatte jedoch nichts direkt bei sich. Mittlerweile wusste Miriam, das Sandra sehr wohl aufstehen und sogar etwas laufen konnte, es jedoch meistens nicht tat, da es für sie schnell schmerzhaft wurde. Autofahren konnte sie allerdings, was für den Laden auch notwendig war. Sie fuhr einen recht geräumigen Kombi, der wie die meisten Autos heutzutage auf einem Elektromotor aufbaute.

Sie sah, dass Miriam gerade am Stecken war, weshalb sie sie nicht direkt ansprach.

„Fertig“, sagte Miriam schließlich, als sie das Papier um den Strauß herumband. Sie band das Papier fest, ehe sie den Strauß der jungen Frau ihr gegenüber reichte.

„Vielen Dank. Wie viel macht das?“

„Fünf Euro.“

Die Frau nickte, holte das Geld heraus und zahlte es Miriam. Als diese es in der Kasse verstaut hatte, ging die Kundin.

Erst jetzt kam Sandra zu Miriam. „Ich habe ein paar Sachen im Wagen. Wärst du so nett?“

„Natürlich“, erwiderte Miriam und ging nach hinten, wo sie durch eine Tür im Vorratsraum auf den Hinterhof kam. Dort befand sich ein kleiner Parkplatz, wo auch der große grüne Wage der Hexe stand. Ihre Gedanken wanderten, während sie die drei großen Töpfe mit Palmpflanzen einen nach den anderen in den Laden räumte.

Das Saatgut, das Sandra außerdem gekauft hatte, war dagegen leichter transportiert.

„Eine Frage habe ich, Sandra“, meinte sie, als sie wieder in den eigentlichen Laden kam.

„Ja?“

„Bei mir vor dem Studentenwohnheim ist ein Baum während der Wende gewachsen und hat ein Gebäude zerstört. Und man sagt doch, in diesem Bäumen leben Geister oder Götter, oder?“

Ein mysteriöses Lächeln erschien auf Sandras Zügen. Offenbar fanden auch die Feen diese Frage interessant, denn eine nach der anderen wurde still und sahen sich um.

„Nun“, begann Sandra schließlich, „mit den alten Göttern und Geistern ist es so eine Sache.“ Sie hielt inne. „Habt ihr eigentlich irgendetwas darüber in der Schule gelernt?“

Miriam schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Die Wende wurde nur grob behandelt. Also ich weiß von Loki und den Göttern, die bei ihm waren, von Yggdrasil und ich weiß, dass während der Wende alte Götter erwacht ist, mehr nicht.“

Sandra holte tief Luft. „Okay. Also … Die Sache ist, ich war auch erst zwölf, als die Wende kam. Insofern war ich auch noch nicht wirklich ausgebildet oder so. Aber ich weiß, dass selbst viele Magiewirkende vor der Wende nichts von Gottheiten wussten. Also es gab Legenden, aber viele hatten nie einen realen Gott gesehen und selbst die, die mal einem begegnet waren, hielten sie eher für mächtige Geister. Die ganze Bedeutung der Magie war einfach vielen nicht klar, weißt du?“

Miriam nickte nur.

„Entsprechend war vielen nicht klar, dass es auch die alten Götter und Geister gab. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Leute, die mit Loki zusammengearbeitet haben, davon wussten. Aber offenbar ist es so, dass die Magie selbst ein Gedächtnis hat und als sie durch den Weltenbaum stärker geworden ist, da hatten die alten Geister und Gottheiten eben wieder die Kraft, sich zu materialisieren und ihre Kraft zu wirken. Dadurch sind eben die Wälder wieder gewachsen und die Meere wieder erwacht und diese Dinge. Aber da diese Gottheiten eben geschlafen haben, weil ihre Namen vergessen waren, wissen wir über viele bis heute nichts. Einige sind natürlich sehr Mitteilungsbedürftig, wie Answit, aber das waren bei weitem nicht alle. Deswegen wissen auch wir nicht viel mehr.“

Irgendwie war diese Antwort schon enttäuschend. Miriam hatte erwartet, dass die Magiewirkenden etwas darüber wussten, dass sie mehr darüber gehört oder gelernt hatten. Aber wenn sie nicht einmal von den Göttern gewusst hatten … Der Gedanke erschien ihr so fremd. Immerhin war sie davon ausgegangen, dass die magische Welt immer gleich gewesen war, dass die magischen Leute auf einer Seite standen.

„Glaubst du, dass es eine Möglichkeit gibt, mit der Gottheit in dem Baum zu sprechen?“, fragte sie nach einer längeren Pause.

Noch einmal überlegte Sandra. „Vielleicht weiß ich etwas, das du versuchen könntest.“

Es war ein später Sonntagabend als Sandra mit ihrem großen Kombi vor dem Studentenwohnheim vorfuhr. Miriam kam herunter, um sie in Empfang zu nehmen. Sie holte Sandras Rollstuhl aus dem Kofferraum des Wagens und stellte ihn vor die Fahrertür, so dass Sandra einfacher hinübersteigen konnte.

Die Augen der Hexe waren auf den Baum gerichtet, der aus dem alten Gebäude, das wohl einst ein Büro gewesen war, hinausragte. „Das ist also der Baum“, murmelte sie.

Miriam nickte und ging bis zu dem Zaun, der um das bröckelnde Gebäude herumgezogen war. Es waren einfach nur Pole, die mit einer Kette verbunden waren. Nicht mehr als ein Zeichen, dass man nicht näher sollte – und leicht zu überwinden.

Auch Sandra kam bis zum Zaun vor, schaute den Baum an, der unnatürlich groß war – jedenfalls für einen Baum in einer Stadt.

Kurz sah Miriam sich um, ehe sie über den Zaun stieg und dann die Kette hochhielt, damit Sandra drunter hinwegkonnte. Dann näherten sie sich dem alten Gebäude und dem Baum.

Aus der Tasche unter ihrem Rollstuhl holte Sandra eine kleine Flasche mit einem Trank hervor. „Schaffst du es bis zur Wurzel hin?“, fragte sie.

„Ja, sicher.“ Miriam schaute zum Gebäude, dessen Fenster mittlerweile größtenteils zerbrochen waren. Man konnte fast meinen, dass es vor allem der Baum war, der die Überreste aus Metall und Beton aufrechterhielt. Sie nahm das Fläschchen entgegen, blickte sich noch einmal um, ehe sie vorsichtig durch eine der Fensteröffnungen kletterte, vorsichtig darauf achtend, sich nicht an etwaigen Scherben zu schneiden.

Genau solche knirschten unter ihren Füßen, als sie auf dem Boden im Gebäude aufkam. Hier war noch alles so, wie es einst hinterlassen wurde. Wahrscheinlich an einem einfachen Wochentag, an dem alle damit rechneten auch am nächsten Tag zu arbeiten. War die Wende damals ein Wochentag gewesen? Sie wusste es nicht mehr.

Doch ja, hier standen noch Schreibtische, Schränke und sogar noch Rechner, die wahrscheinlich schon seit einigen Jahren nicht mehr funktionierten.

Allerdings war hier auch etwas anderes. Eine seltsame Energie lag in der Luft. Bildete sie sich das ein? Nein, oder? Sie schaute sich um, holte ihr Handy heraus, um zu leuchten. Der Baum war ziemlich in der Mitte des Gebäudes gewachsen.

So schob sie die Tür des Büros auf und ging in den dahinterliegenden Flur. Noch einmal musste sie sich umsehen, fand dann aber einen Ast, der an einer Stelle durch die Wand gebrochen war. Diesem Ast folgte sie, ging wieder in ein Büro hinein und fand hier tatsächlich einen Baumstamm.

Zum Glück hatte dieses Gebäude keinen Keller gehabt, so dass hier tatsächlich auch die Wurzeln des Baumes den Boden zerrissen hatten.

Ein wenig zog sich ihr Magen schon vor Angst zusammen. Sie wollte keinen alten Gott erzürnen. Dennoch ging sie bis zum sicher einen Meter breiten Baumstamm hervor und legte ihre Hand darauf.

Sofort erfüllte ein Kribbeln ihre Hand. Das musste es sein: Die inhärente Magie dieses Baumes.

Sie holte tief Luft, zog dann den Korken aus dem kleinen Fläschchen und verteilte die Flüssigkeit auf den Wurzeln des Baumes. Sofort sogen die Wurzeln die Flüssigkeit ein und ein Knarzen erklang. Etwas bewegte sich, selbst wenn Miriam die Bewegung nicht sehen konnte.

Sie trat einen Schritt zurück, wartete, ob etwas geschah. Sandra hatte ihr vorher gesagt, sie solle rauskommen, sobald sie den Trank verteilt hatte.

Dennoch wartete sie einen Moment, starrte den Baum an und hoffte, das etwas weiteres geschah.

Doch nichts.

Also ging sie langsam, rückwärts aus dem Raum heraus, ehe sie zurück zum Fenster eilte. Zum Glück war sie sportlich genug, als dass sie auch so aus dem Fenster entkam.

„Und jetzt?“, fragte sie Sandra, die draußen auf sie wartete.

„Jetzt warten wir“, antwortete Sandra, die sich nun vorsichtig aus ihrem Rollstuhl erhob und die Hand nach einem der niedrig wachsenden Zweige ausstreckte. Vorsichtig barg sie den Zweig in ihren Händen und schloss die Augen.

Ein wenig neidisch war Miriam schon. Sie wäre gerne fähig, mit Pflanzen zu kommunizieren. Nachdem Yggdrasil nachgewachsen war, hatten so viele Kräfte erhalte – aber dennoch waren es nicht mehr als zwanzig Prozent der Gesellschaft.

Sie seufzte, beobachtete Sandra, die so im Licht der Straßenlaterne stand. Schließlich aber öffnete die Hexe ihre Augen. Statt etwas zu sagen, setzte sie sich wieder hin und atmete tief durch.

Miriam wartete ungeduldig auf … nun, irgendetwas. „Was?“, fragte sie schließlich.

Noch einmal holte Sandra tief Luft. „Da ist ein altes Wesen in dem Baum“, antwortete Sandra. „Ein Geist. Aber er schläft noch und möchte weiterschlafen.“

„Hat er dir das gesagt?“

„Nein, ich habe es gespürt. Ich kann ihn noch immer spüren.“ Sandra lächelte matt. „Er versteht diese neue Welt noch nicht.“

„Und irgendwann wird er sie verstehen?“

Sandra deutete ein Schulterzucken an. „Wer weiß.“

Miriam schaute in die Krone des Baumes hinauf. Natürlich konnte sie sich nicht vorstellen, wie es für einen Geist war. Die meisten alten Geister waren mehr als tausend Jahre alt, waren vor hunderten von Jahren verschwunden. Wie musste es für sie sein, in dieser neuen Welt zu erwachen?

Sie seufzte, nickte dann aber. „Danke.“ Eigentlich wollte sie darauf warten, dass dieser Geist erwachte. Doch warum, das wusste sie nicht wirklich.


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