Kurzgeschichte: Die Geister des Kapitalismus
Die Geburtstagsgeschichten diesen Monat liegen heute sehr nah beieinander. Heute kommt die erste, am Donnerstag die zweite. Die Geschichte, die es heute gibt, ist für Grit vom Art Script Phantastik Verlag. Als ich ihr von der Idee erzählte, sprang sie gleich auf einen meiner Serviervorschläge an: Solarpunk Horror. Ich habe mir wirklich viel Gedanken darüber gemacht, was ich aus dieser Mischung mache. Am Ende habe ich mich entschlossen einen Hauptcharakter zu nehmen, für den wirklich viele Dinge gruselig sind: Ein Kind.
Tags: Gruselgeschichter, Geister, Spuk, Amazon ist böse, Kinderaugen, Geschlechtsneutral
CN: Erwähnung von Tod, Erwähnung von Ausnutzung im Kapitalismus
Die Geister des Kapitalismus
Rose staunte nicht schlecht, als es in die fertig eingerichtete Wohnung kam. Es hatte diese schon gesehen, als sie noch im Bau war. Jetzt aber, mit der fertigen Einrichtung, sah alles noch viel … Na ja, einfach viel besser aus.
„Und das ist mein Zimmer!“, rief es aus, als es die Tür öffnete. Das Zimmer war klein, bot aber genug Platz für sein Bett, einen Schreibtisch und ein Bücherregal. Schon stürmte Rose in das Zimmer rein und sprang auf das Bett, das so wunderbar federte.
Das Bett war noch nicht bezogen, aber Rose konnte sich bereits vorstellen, wie alles fertig aussehen würde. Wenn es das Zimmer erst einmal richtig eingerichtet hatte.
Sein Papa stand in der Tür und lächelte. „Komm. Du solltest auch ein wenig helfen.“
„Ja, ja, Papa, ich weiß.“ Rose rollte sich aus dem Bett heraus. Es wusste ganz genau, dass es sich nicht gehörte, andere für sich arbeiten zu lassen. Also würde auch es helfen, die Sachen aus dem Transporter hochzubringen. Darin waren all die Sachen von ihm und Papa. All die Bücher, die Kleidung, die Spielsachen. Die wichtigen Dinge eben.
Das Haus war ganz neu. Rose hatte es schon mit Papa besucht, als die Leute noch daran gebaut hatten. 25 Familien würden Platz in dem Haus haben. Alle mit Apartments wie diesem. Dabei war es nicht viel anders, als das Apartment, in dem sie vorher gewohnt hatten. Drei Zimmer, ein schönes Bad, eine kleine Küche – und für jede Etage dazu eine große Gemeinschaftsküche. Ihre Wohnung war ganz oben im Haus, direkt unter dem Dachgarten. Auch war dieses Haus nur eins von vielen. Da waren ganze elf weitere Häuser mit mehr Familien, die hier gebaut waren. Alle neu. Alle schön und hell und mit vielen Pflanzen. Ganz so, wie Rose es mochte. Auch gab es in der Mitte von den ganzen Häusern einen großen Waldgarten.
Wo sie vorher gewohnt hatten, da war der nächste große Garten ein ganzes Stück entfernt gewesen. Papa hatte Rose noch nicht allein dahingehen lassen, was es immer schade gefunden hatte. Hier würde das hoffentlich anders sein. Immerhin war der Garten sogar näher am Haus, als die Schule, zu der es ab nächster Woche gehen würde. Darauf freute es sich am meisten. Zumal auch viele andere Kinder hier sicher wohnen würden.
Jetzt aber musste es anständig helfen, um seine Sachen in die Wohnung zu bringen. Dabei kam es nicht umher bereits Ausschau nach den anderen Kindern zu halten. Sie waren ja nicht die einzige Familie, die heute hier einzog.
„Magst du heute Nacht bei mir schlafen?“, fragte Papa am Abend.
Rose schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Ich möchte in meinem neuen Zimmer schlafen!“
„Bist du dir sicher?“ Papa schien besorgt. „Nicht, dass du wieder Albträume bekommst.“
„Ach was. Ich habe keine Albträume mehr!“ Schließlich war das hier eine neue Wohnung und es würde hier viel tapferer sein. Immerhin würde es ja auch nächste Woche in die Schule gehen. Es war also kein kleines Kind mehr!
Noch immer war Papa nicht ganz überzeugt. Dennoch lenkte er ein. „Okay. Aber wenn etwas ist, kannst du nach mir rufen, ja?“
„Ist klar, Papa!“
„Ich lasse die Tür angelehnt.“
Ein wenig genervt nickte Rose. „Ja.“ Damit sprang es wieder auf das Bett, das jetzt bezogen war.
Rose hatte sich seine liebste Bettwäsche rausgesucht. Darauf abgebildet war Fiera aus den Comics, die es so gerne las. Auch durfte natürlich sein Plüschtier nicht fehlen. Blue war ein großer Orca, an den sich Rose in der Nacht immer kuschelte. Dabei war er nicht einmal blau.
„Dann gute Nacht“, sagte Papa und schaltete das Licht aus. Das Nachtlicht an der Steckdose lief jedoch weiter und malte bunte Gestalten an die Wände.
Rose zog die Bettdecke über sich und atmete tief durch. Das war sie, die erste Nacht in der neuen Wohnung und im neuen, eigenen Zimmer. Ganz hatte es noch nicht geschafft, all seine Sachen in das Regal zu räumen, weswegen noch immer ein großer Umzugskarton neben dem Bett stand.
Darum konnte es sich morgen kümmern.
So schlang es die Arme um Blue und schloss die Augen. Vielleicht durfte es morgen ja schon zum Waldgarten gehen. Dann konnte es die Nachbarn kennenlernen. Oder vielleicht kochten sie in der großen Gemeinschaftsküche. Es gab einfach so viele Möglichkeiten.
Ein wenig malte es sich aus, wie es am nächsten Tag neue Freund*innen treffen würde. Dabei war es eigentlich sehr müde. Immerhin war heute ein anstrengender Tag gewesen. So war es kaum verwunderlich, dass früher oder später die Müdigkeit überwältigend wurde und Rose von seinen Tagträumen in die echten Träume hinübergleiten ließ.
Irgendwann aber wurden diese gestört. Unsanft wurde Rose wach und wusste doch nicht, wovon es überhaupt geweckt worden war. Verschlafen sah es sich in seinem Zimmer um. Da hörte es das Geräusch. Ein langgezogenes müdes Stöhnen.
Ein kalter Schauer lief Roses Rücken hinab.
Das war sicher Papa, sagte es sich. Tatsächlich aber zweifelte es daran. Das klang nicht wie Papa. Nein. Das klang wie jemand anderes. Aber wer war es dann?
Ein weiteres Stöhnen. Es klang schmerzerfüllt.
Was, wenn es doch Papa war?
Sicher sollte Rose aufstehen und nachsehen, aber irgendwie waren seine Beine wie versteinert. Es wollte aus dem Bett, es wollte nachsehen, aber es konnte nicht. Da war doch wieder die Angst.
Schon schossen Tränen in seine Augen. „Papa?“, hauchte es mit zitternder Stimme. „Papa?“
Keine Antwort. Was, wenn wirklich etwas mit Papa war? Dann musste es nachsehen. Ja, es sollte nachsehen. Die doofen Beine. Warum bewegten sich die doofen Beine nicht? Warum war es nur, wie versteinert?
Ein Schluchzen kam über Roses Lippen. Dann erhob es die Stimme. „Papa!“ Dieses Mal rief es. „Papa!“
Da. Etwas bewegte sich in dem Apartment. Schritte. Einen Moment später ging das Licht im Wohnzimmer an. Schon riss Papa die Tür zu Roses Zimmer auf. „Was ist los?“ Sein Blick wandte sich zu Rose. Als er seine Tränen sah, ging er zum Bett hinüber. „Was ist denn, mein Schatz?“
Rose aber konnte nicht antworten. Stattdessen schluchzte Rose.
Jetzt wohnten sie schon drei Tage in dem neuen Apartment. In diesen drei Tagen hatten sie schon mit dem Rest der Bewohner*innen zusammen gekocht, waren gemeinsam im Waldgarten gewesen und hatten sich bereits die Schule angesehen. Eigentlich sollte Rose sich freuen. Allein schon, dass auch ganze fünf Kinder, die etwa in seinem Alter waren hier lebten, sollte Grund genug zur Freude sein. Dennoch war Rose angespannt. Dieses seltsame Stöhnen aus der ersten Nacht in dem Apartment verfolgt es, wenn auch immer es allein war.
Rose hatte Papa davon erzählt, aber Papa wollte ihr nicht glauben. Er dachte, sie hätte es geträumt, schließlich hatte es so oft Albträume gehabt.
Dabei wusste Rose ganz genau, dass es nicht so war. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Haus, mit diesem Apartment. Nein, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
So hatte sie auch in den letzten zwei Nächten wieder bei Papa im Bett geschlafen. Da war es ein wenig sicherer. Eigentlich wollte es das nicht, aber wenn es nachts allein im Zimmer war, dann fühlte es sich zu verunsichert, um zu schlafen.
Auch in dieser Nacht schlief es bei Papa. Mit Blue in den Armen kam es abends zu ihm, woraufhin er mit einem Seufzen sein Buch zur Seite legte. „Kannst du wieder nicht schlafen?“, fragte er.
Rose schaute ihn nicht an, schüttelte aber den Kopf. Eigentlich war es schon groß. Eigentlich sollte es keine Angst haben. Und doch hatte es Angst.
Papa schlug die Bettdecke zur Seite. „Dann komm.“
Rasch huschte Rose zum Bett hinüber und vergrub sich unter der Bettdecke. Papas Bett war groß. Größer als Roses. Immerhin war es auch dafür gemacht, dass zwei oder drei Leute darin schlafen konnten.
„Soll ich dir noch eine Geschichte vorlesen?“, fragte Papa.
„Das brauchst du nicht.“ Rose vergrub sein Gesicht in Blues weichem Stoff. „Ich will einfach schlafen.“
„Okay.“ Damit schaltete Papa das Licht aus. Er strich über Roses Schulter. „Du wirst dich noch an die neue Wohnung gewöhnen.“
Rose brummte in einer vagen Bestätigung. Es stimmte ja nicht. Es würde sich nicht gewöhnen, denn irgendetwas war hier ganz und gar nicht richtig.
Dieses Gefühl sorgte dafür, dass Rose auch in dieser Nacht nur in einen sehr unruhigen Schlaf verfiel. Immer wieder wachte es auf. Während Papa jedes Mal in Ruhe schlief, fühlte Rose sich unruhig. Es wälzte sich hin und her. Mehrfach hatte es den Eindruck, wieder seltsame Geräusche gehört zu haben, aber genau konnte es dies nie ausmachen.
Die Uhr neben dem Bett verriet Rose, dass die Nacht auf zwei Uhr zuging, als es zum vierten Mal aufwachte. Wieder glaubte es, etwas gehört zu haben. Ein sehr unangenehmes Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus. Es war bedrückend. Angsteinflößend. Erschöpfend. Ja, erschöpfend. Das war seltsam, oder nicht?
Rose richtete sich auf. Blue fest an sich gedrückt, schaute es sich um. Natürlich war hier nichts. Nichts im Zimmer. So lauschte es in die Stille.
Da. Wieder. Ein Geräusch. Ein fernes Klingeln. Was war das für ein Klingeln? Es klang so fern, so ungewohnt. Aber es kam von draußen. Ganz bestimmt kam es von draußen.
Leicht zitternd, wandte Rose sich dem Fenster zu. Ob da draußen jemand war? Eigentlich traute es sich nicht, dennoch rang es sich durch, schaute aus dem Fenster und sah … Nichts. Da war nichts. Nur das sanfte Licht der Lumisphären, das sich sanft zwischen den Bäumen ausbreitete.
Einige Tage später ging die Schule los. Rose hatte diesen Tag schon lange mit Aufregung erwartet. Schule hieß immerhin, dass es jetzt ein großes Kind war. Die Schule in der neuen Wohngegend war ein schöner Ort. Neben Rose fingen sechs andere Kinder mit der Schule an. Doch obwohl Rose sich so lange schon darauf gefreut hatte, konnte es diese ersten Tage in der Schule nicht wirklich genießen. Denn Rose war müde. So unglaublich müde. In den Nächten fand es keinen wirklichen Schlaf, selbst wenn es an Papas Seite schlief. Das unangenehme Gefühl blieb und damit auch der unruhige Schlaf.
Es fühlte sich unglaublich müde. Ja, am dritten Tag in der Schule schlief es kurz nach dem Mittagessen sogar auf einem der Sitzsäcke ein. Es wusste nicht, wie lange es so geschlafen hatte, bis jemand es wachrüttelte. Dieser jemand war Jamal, ein Junge, mit dem zusammen es Mathematik lernte. Er war ein Jahr älter als es und benutzte aktuell er/ihm-Pronomen. Anders als Rose hatte er sich dafür schon entschieden. Er hatte schöne, dunkle Haut und wache Augen. „Schläfst du normal nach dem Mittagessen?“, fragte er sanft.
Rose schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“ Dennoch rieb es sich müde die Augen.
Jamal betrachtete es bedächtig. „Kannst du auch nicht schlafen?“
„Wie meinst du das?“
„Ich meine, wachst du auch immer nachts auf?“ Er wirkte verunsichert, als er diese Frage stellte. Nervös schaute er sich im kleinen Ruheraum der Schule um.
Rose wich seinem Blick aus. „Ja“, gab es dann zu. „Irgendetwas weckt mich immer.“
„Ich weiß genau, was du meinst“, sagte Jamal. „Irgendetwas ist hier. Das spüre ich schon, seit wir hier angekommen sind.“
Ein Schauer jagte über Roses Rücken. „Und was glaubst du, das es ist?“
Jamal antwortete nicht direkt. Stattdessen sah er zum Fenster, das von grünen Pflanzen eingerahmt war.
Statt ihm antwortete jemand anderes. „Geister!“, rief jemand der anderen im Raum. Das Kind war größer, als sie beide, hatte langes, lockig rotes Haar. „Hier spukt es!“
Rose zitterte leicht. Leider kannte es Geistergeschichten. Es hatte solche Geschichten einmal in einem Buch gefunden. Da war es um ein altes Schloss gegangen, in dem der Geist eines toten Prinzen spukte. Es war eine der Sachen, vor denen Rose seither in den schlechten Nächten geträumt hatte.
„Jetzt mach ihm doch keine Angst“, sagte Jamal zu dem anderen Kind.
„Will ich doch gar nicht.“ Das andere Kind kam zu ihnen herüber. „Aber ich habe sie gesehen. In beiden letzten Nächten. Sie sind auf dem Gelände nachts unterwegs.“
Das wollte Rose wirklich nicht hören. Am liebsten wäre es weggelaufen.
„Ich habe nichts gesehen“, erwiderte Jamal.
Das andere Kind verdrehte die Augen. Es zeigte auf die Brille auf seiner Nase. „Du musst auch eine AR-Brille aufsetzen. Sonst siehst du die Geister auch nicht.“
„Dann sind es aber keine richtigen Geister.“ Jamal verzog das Gesicht.
„Sind sie ja wohl. Sie verstecken sich halt.“
„Aber warum sollten sie das tun?“
Das andere Kind zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Aber du kannst es ja selbst ausprobieren. Schau, wenn es dunkel ist, mit der Brille raus. Dann wirst du es sehen.“
Als Rose an diesem Tag nach Hause kam, war es angespannt. Ein Teil von ihm wollte nachschauen, ob das, was das andere Kind, das sich später noch als Stephanie vorgestellt hatte, stimmte. Ein anderer Teil von ihm hatte jedoch furchtbare Angst. Eigentlich wollte es keine Geister sehen.
Papa war bereits zuhause, schließlich arbeitete er ja meistens von daheim. Rose bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er saß auf dem Sofa und wirkte sehr, sehr blass.
„Papa?“, fragte es, während es die Tür hinter sich schloss.
Er brummte bloß eine wortlose Antwort.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, alles ist bestens.“ Sarkasmus sprach aus Papas Stimme. Dabei war Papa eigentlich kein sarkastischer Mensch. „Es wäre nur besser, könnte ich einmal eine Nacht in Ruhe schlafen!“ Der Vorwurf klang so deutlich aus seiner Stimme und sorgte dafür, dass Roses Inneres sich zusammenzog.
„Ich … Ich kann heute Nacht wieder allein schlafen“, flüsterte Rose, obwohl es das eigentlich nicht wollte.
„Und dann schreist du doch wieder mitten in der Nacht.“
„Nein. Mache ich nicht. Ganz bestimmt nicht.“ Wahrscheinlich würde es heute Nacht gar nicht schlafen. Wenn es hier wirklich Geister gab, konnte man hier nicht schlafen, oder?
„Das will ich sehen“, grummelte Papa und starrte dann wieder in die Ferne.
Rose schwieg und ging in sein Zimmer. Eigentlich hatte es Papa fragen wollen, ob er an Geister glaubte, doch jetzt konnte es das wohl nicht machen. Ob Papa vielleicht auch merkte, dass etwas nicht stimmte? Ob Papa vielleicht auch einen Geist gesehen hatte?
In seinem Zimmer setzte Rose seine AR-Brille auf, nur um dann zu zögern. Für es war die digitale Umgebung, die diese Brille bot, noch ungewohnt und neu. So lange kannte es die Brillen nicht. Die Gesten, die es brauchte, um die digitalen Elemente zu manipulieren gingen ihm oftmals nur schwer von der Hand. Außerdem wollte es gar nicht das machen, wozu ein Teil von ihm es drängte.
Mit zittrigen Fingern öffnete es die Maske und suchte im Internet nach der Frage, die es eigentlich hatte Papa stellen wollen: „Gibt es Geister?“
Natürlich kannte das Internet viele Antworten auf diese Fragen – und sie waren alle widersprüchlich. Manche Internetseiten sagten ja, andere nein. Die Texte, die es dort gab, waren zu lang, als das Rose sie lesen konnte. Zwar hatte es schon vor der Schule lesen gelernt, doch lange Texte verstand es noch nicht. Deswegen suchte es nach Videos zu dem Thema. Da gab es sogar ein Video von einer Kindersendung, die Rose immer mal wieder geschaut hatte.
Nein, Rose wollte eigentlich keine gruseligen Videos sehen. Aber das Video war für Kinder. Also war es sicher, oder?
Rose schluckte schwer und rief das Video auf, obwohl dabei seine Hände ganz verschwitzt waren.
Das Video zeigte einen dunklen Wald, über dem ein Vollmond stand. Eine Eule schrie. „Geister. Sicher haben viele von euch davon schon gehört. Das sind Seelen von Verstorbenen, die keine Ruhe finden. Zumindest sagt man das.“
Rose stand auf und ging zum Bett, um Blue an sich zu drücken. Das gab ihm zumindest etwas Sicherheit. Dabei lauschte es gebannt der ruhigen Stimme des Erzählers und beobachtete das Video an der rechten Seite seines Sichtfelds.
Der Erzähler sprach davon, wie früher die Leute ganz viel an Geister geglaubt hatten, aber auch, dass dieser Glaube mal mehr und mal weniger geworden war. Das sei von Situationen abhängig gewesen. Die Wissenschaft hätte nie einen Beweis für Geister gefunden. Zumindest das Stimmte Rose ein wenig ruhiger. Allerdings auch nie einen Beweis gegen Geister. Das wiederum war weniger beruhigend. Man hatte früher Geister immer an Orten gesucht, die mit großem Trauma verbunden waren. Dabei erzählte die Stimme unschöne Dinge über Sachen, die Menschen einander angetan hatten.
Diese Dinge aber waren lange her. „Vielleicht ist auch das der Grund, warum es schon seit langem wenig Geschichten von Geistern gibt.“
Aber Stephanie hatte gesagt, hier gäbe es Geister. Also was denn nun?
Der Abend kam und damit auch die Dunkelheit. Heute fühlte sich Rose besonders unsicher damit. Nein, nein, nein! Rose wollte keine Geister sehen! Warum konnte es sich dennoch keine Version dieser Nacht vorstellen, in der es die Geister nicht gab.
Also, sollte es wirklich Geister geben.
Vielleicht gab es keine Geister. Eigentlich sollte es sie nicht geben. Ja, eigentlich …
Rose mochte es nicht, darüber nachzudenken. So saß es an diesem Abend nur missmutig in der Gemeinschaftsküche, wo seine Nachbarin Emilia für es und Papa mitgekocht hatte. Eigentlich war das Essen – Nudeln in einer Knoblauchsoße – lecker. Aber der Gedanke an die Geister nahm Rose jeden Appetit.
„Ich gehe ins Bett“, verkündete es, als es wieder in die Wohnung kam.
Noch immer wirkte Papa grummelig. „Nur um dann wieder zu schreien …“
Was war, wenn einer der Geister Papa besessen hatte, der eigentlich gar nicht so war? Oh, daran wollte Rose gar nicht denken. Aber von solchen Geschichten hatte es auch in dem Video gehört. Früher hatte man dann einen Priester geholt, aber Rose kannte gar keinen Priester.
Nein, nein. Darüber konnte es nicht nachdenken. Wahrscheinlich hatte Stephanie nicht die Wahrheit gesagt. Es gab keine Geister. Sicher nicht.
Dies bestätigte sich sogar, als Rose ins Bett ging, auf dieses kletterte und aus dem Fenster am Kopfende schaute. Es hatte extra dabei seine Brille aufgesetzt – und da unten zwischen Bäumen und Lumisphären gab es keine geisterhaften Gestalten.
Ja, wahrscheinlich gab es gute Erklärungen für alles.
Zumindest versuchte Rose sich das einzureden, als es Blue an sich drückte und sich unter der Bettdecke versteckte. Es würde sicher nicht wieder nach Papa rufen.
Irgendwann gewann die Müdigkeit und Rose schlief ein. Doch wieder waren es nur ein paar Stunden, ehe ein fernes Geräusch es aus dem Schlaf riss. Es blinzelte und sah erst einmal nur Blue und die Unterseite seiner Bettdecke. Wie spät es wohl war?
Dunkel war es auf jeden Fall noch.
Da! Wieder ein Geräusch! Dieses müde, müde Stöhnen, das es auch schon in der ersten Nacht gehört hatte.
Also doch ein Geist?
Es fasste sich ein Herz. Schweißnass schob es die Bettdecke zur Seite und griff nach der Brille auf der Fensterbank. Es setzte sie auf. Als sich die digitale Umgebung aktivierte, sagte ihm die Uhr, dass es kurz nach drei war.
Von draußen kamen ferne Geräusche.
Es ging auf die Knie und wandte sich dem Fenster zu. Die Blende deaktivierte es. Dann schaute es nach unten und zuckte nur einen Augenblick später zusammen.
Da unten war etwas. Figuren. Schattenhafte Schemen. Sie waren definitiv menschlicher Gestalt, doch nicht genauer zu erkennen. Sie schoben Wägen hin und her, trugen Sachen, gaben irgendetwas in kleine dunkle Blöcke in ihren Händen ein. Es war ein reges Treiben. Doch als Rose die AR-Brille von seiner Nase hob, war davon nicht länger etwas zu sehen.
Was waren das für Geister, die nur in der digitalen Umgebung der Brille zu sehen waren?
Wieder setzte Rose die Brille auf.
Es war komisch. Das da waren eindeutig Geister, die gleichzeitig so gezielt, so gehetzt und doch so lustlos ihrer Dinge nachgingen. Aber jetzt, wo Rose sie sah, hatte es weniger Angst. Denn eigentlich wirkte es, als würden diese Geister nicht in derselben Welt existieren, wie es selbst. Ja, es war, als wären sie eine Erinnerung, die irgendwie in der digitalen Welt der AR am Leben gehalten wurden.
Ein Teil von Rose wusste, dass es diese Geister nicht fürchten musste. Dennoch rissen die seltsamen Laute es jede Nacht aus dem Schlaf. Auch die seltsame Atmosphäre blieb, die die Stimmung so drückend machte. Es sah es vor allem an seinem Vater. Dieser wurde jeden Tag müder und gereizter. Schon fast traute Rose sich nicht, ihn irgendetwas zu fragen, weil es nie wusste, wie er reagieren würde. Es musste an diesem Ort liegen. Immerhin konnte es nichts mit seiner neuen Arbeit zu tun haben, oder?
Es hatte auch noch einmal mit Jamal gesprochen, der ähnliches berichtete. Allgemein wirkten alle, denen Rose hier begegnete auf ähnliche Art übermüdet und unausgeglichen.
„Frau Noceda?“, fragte Rose so einige Tage später im Unterricht in der Schule.
Es hatte sich dafür entschieden bereits jetzt Geschichte zu lernen. Ein Fach, bei dem es zwischen sechs älteren Schüler*innen saß. Die Lehrerin, die ein weites gelbes Kleid und einen grünen Schal trug, wandte sich ihm zu.
„Was ist, Rose?“
„Ich habe eine Frage.“ Diese Frage hatte es über die letzten Tage genau in seinem Kopf formuliert. Wäre es bereits besser im Lesen, könnte es diese Sachen vielleicht schon online recherchieren, doch soweit hatte es nicht geklappt.
„Zum aktuellen Thema?“ Sie sprachen aktuell über frühmenschliche Kulturen.
Rose schüttelte den Kopf. „Nein. Tatsächlich nicht. Aber es ist wichtig.“
Frau Noceda überlegte. „Ist es für die anderen in Ordnung, wenn du deine Frage stellst?“
Unsicher schaute Rose sich um, doch seine Mitschüler*innen nickten.
„Dann stell deine Frage.“
„Was war hier, bevor diese Wohnhäuser hier gebaut wurden?“
Die dunkelhäutige Lehrerin überlegte kurz. „Soweit ich weiß leerstehende Industriehallen.“
„Industrie?“, fragte Lee, eine der Mitschülerinnen.
Auch Rose war dieses Wort fremd.
„Lasst mich kurz etwas nachschauen, ja?“, sagte Frau Noceda. Mit ein paar Handbewegungen aktivierte sie fraglos ihr AR, um im Internet nachsehen zu können. Ihre Augenbewegungen verrieten, dass sie etwas las. „Setzt einmal eure Brillen auf, ja?“, wies sie die Gruppe schließlich an.
Sie gehorchten, setzten ihre Brillen auf, so dass die Lehrerin Bilder mit ihnen teilen konnte.
In Roses Blickfeld erschienen die Bilder großer, grauer Hallen auf einem großen, grauen Gelände, das ansonsten voll mit Autos stand. So viele Autos hatte Rose noch nie an einem Ort gesehen.
Dabei verriet die Qualität des Bildes, dass es alt war. Es war nicht für die AR-Ansicht aufgenommen worden.
„In der alten Welt haben die Menschen viel mehr gearbeitet, als heute“, erklärte Frau Noceda. „Und viele Dinge gehörten sehr großen Firmen. Eine dieser Firmen hat von diesem Gelände einmal aus gearbeitet. Sie haben große Lager gehabt, in denen sie alle möglichen Gegenstände hatten. Und die haben sie verschickt, wenn Menschen sie bestellt haben.“
Das klang eigentlich harmlos, beschloss Rose. Aber warum waren dann die Geister hier.
„Haben Menschen damals viel bestellt?“, fragte Antonio.
„Ja, für eine Weile sehr, sehr viel.“ Die Lehrerin zeigte noch weitere Bilder. Diese waren wohl aus dem Inneren der großen Lagerhallen. Dort standen große, ja, riesige Regale, voll mit Paketen. Menschen liefen dazwischen hin und her oder fuhren mit Wägen – so wie Rose sie bei den Geistern gesehen hatte.
„Frau Noceda?“, fragte Rose noch einmal.
„Ja?“
„Die Leute, die dann diese Sachen verschickt haben, die waren nicht sehr glücklich, oder?“
Die Lehrerin antwortete nicht sofort. Schließlich schaffte sie es jedoch einige Worte zu formulieren. „Man sagt, damals haben viele Leute nicht gern gearbeitet. Weil sie so viel arbeiten mussten. Aber es heißt auch, die Firma, die hier früher war, war besonders schlimm. Weil die Menschen dort ohne Pause arbeiten mussten. Das war sehr anstrengend und nicht gut für die Gesundheit der Menschen.“
Es war wieder Lee, die die Lehrerin offen fragend anschaute. „Sind die dann gestorben?“
Die Lehrerin seufzte. „Es soll Todesfälle gegeben haben. Ja.“
Dann waren es die Geister, die hier spukten? Doch so viele Leute konnten nicht gestorben sein, oder?
„Wieso fragst du eigentlich, Rose?“
Etwas beschämt wich Rose dem Blick seiner Lehrerin aus. „Na ja, also … Ich … Ich habe hier Dinge gehört. Und gesehen. Und ich weiß, dass das nicht nur ich bin. Und …“ Was würden die Leute denken, wenn es das aussprach? „Ich glaube, hier gibt es Geister!“ Voller Unsicherheit sah es sich in der Klasse um.
William prustete los, wurde aber rasch durch einen Stoß von Michélle zum Schweigen gebracht.
Dann gab Antonio zu: „Ich habe sie auch gesehen. Immer nachts. Dann kann man sie beobachten.“
Rose atmete auf. Also waren sie wirklich nicht allein.
Als Rose ein paar Tage später nach Hause kam, weinte Papa. Er saß auf dem Sofa und hatte die Beine an sich gezogen. Tränen liefen über seine Wangen und er schluchzte unverhohlen. So hatte Rose ihn noch nie gesehen.
Sofort legte Rose seine Tasche ab und kletterte auf das Sofa zu Papa. Ungeschickt legte es die Hand auf Papas Schulter. „Papa?“, fragte es. „Papa?“
„Ich kann nicht mehr“, kam es über Papas Lippen.
Das verstand Rose nun wirklich nicht. „Was kannst du denn nicht mehr?“
„Ach, das …“ Papa hielt inne und sah es an. „Rose?“
Unsicher nickte Rose.
Nun rieb er sich die verweinten Augen und versuchte, die Tränen wegzublinzeln. „W-wann bist du heimgekommen?“
„Gerade eben. Was ist denn los, Papa?“
Einige Male atmete er tief durch. Eine Antwort schien er nicht zu wissen.
„Ach, Papa.“ Damit legte Rose beide Arme um ihn herum und drückte sich an ihn – eine Umarmung, die er nach kurzem Zögern erwiderte. Er zog ihn auf seinen Schoß und schnüffelte an seinem Haar.
„Weißt du, ich frage mich, ob es richtig war, hierher zu ziehen.“ Seine Stimme klang rau vom vielen Weinen. Als Rose aufsah, liefen da noch immer Tränen über seine Wagen. „Seit wir hierhergezogen sind, fühle ich mich so … So …“
„Müde?“, schlug Rose vor. „Angespannt?“
Papa nickte. „Ja. So in etwa.“ Noch einmal holte er Zitternd Luft. „Es tut mir leid, dass ich so grob zu dir war in den letzten Tagen. Es ist nur alles … So viel.“
Rose nickte bedächtig. Bis heute hatte es noch nicht über die Geister und die Dinge, die es nachts gesehen hatte, gesprochen. Nun aber gab es nicht einen Schubs. „Ich weiß, warum, Papa.“
Das überraschte ihn doch. Er starrte es an. „Ja?“
„Dieser Ort hier, ist kein guter Ort“, erklärte Rose. „Dieser Ort gehörte früher einmal bösen Menschen, die andere Menschen ausgenutzt haben. Hier haben Menschen ganz viel gearbeitet, ohne Pause. Und manche sind dabei sogar gestorben. Ich glaube, ihre Geister sind hiergeblieben. Also sogar jetzt, als sie diese Häuser gebaut haben.“
Papa fiel nicht sofort eine Antwort ein. „G-Geister?“, fragte er schließlich. Seine Stimme war ungläubig.
Rose aber nickte ernsthaft. „Ja. Ich glaube hier sind Geister von früher. Oder vielleicht …“ Eigentlich hatte Rose in den letzten Tagen so viel darüber nachgedacht. „Vielleicht hat der Ort einfach nur viele schlechte Erinnerungen. Und ich glaube, wir spüren die.“ Viel leiser fügte es hinzu: „Oder sehen sie.“
„Sehen?“
„Ja. Wenn man nachts rausschaut mit einer Brille auf, dann kann man die Geister sehen. Ich kann es dir mal zeigen.“
Papa zögerte. „Ich glaube dir“, sagte er dann. Wieder drückte er es an sich. „Ich weiß nur nicht, was wir machen können.“
So richtig wusste es Rose auch nicht, obwohl es in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht hatte. So schmiegte es sich nur an Papa dran, weil dieser es zu brauchen schien.
Am Ende drückte er es ein wenig von sich, um es ansehen zu können. „Glaubst du, wir sollten von hier wegziehen?“ Die Frage war ernst gemeint, das merkte Rose. Und wenn es die Tränen auf seinem Gesicht bedachte, war es vielleicht auch eine gute Entscheidung. Dennoch widerstrebte es ihm irgendwie.
Es hatte mehr Videos geschaut in den letzten Tagen in der Hoffnung, Antworten auf all seine Fragen zu finden. Warum hatten all die klugen Forschenden so wenig über Geister herausgefunden? Über diese wurde häufig mehr spirituell gesprochen, als wissenschaftlich. Aber vielleicht war die Antwort ja spirituell.
„Ich glaube, wir sollten mit unseren Nachbarn sprechen“, sagte es. „Ich weiß von anderen Kindern in der Schule, dass sie es auch sehen und spüren. Ich glaub, wir sollten darüber sprechen und als Gemeinschaft eine Lösung finden.“
Sie waren nicht die einzigen gewesen. Auch ihre Nachbarn, ja, die ganze Kommune hatte es erlebt. Sie hatten die nächtlichen Geräusche gehört und viele von ihnen hatten die Gestalten gesehen, die sich in der seltsamen digitalen Welt knapp abseits der Realität fortbewegten.
Das hier war nun ihre Antwort. Ein Gedenkstein. Ein Zeichen, in der Hoffnung, dass es die Geister zum Ruhen brachte.
Sie hatten außerdem einen Mann dazu geholt. Er gehörte zu einem der indigenen Stämme, die zu großen Teilen auf ihrem eigenen Land lebten. Er hatte gebetet, dafür, dass die Geister zu Ruhe kommen sollten.
Nun standen sie hier vor dem marmornen Stein, der nur mit wenigen Worten beschrieben war: „In Gedenken an Josephine Smith, Greogory Oboe, Jeremy Kardinski, Lee Shan und all jener, deren Leben von inhumanen Praktiken zerstört wurden. Auf das wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.“
„Glaubst du, dass es hilft?“, fragte Jamal, während er den Stein durch seine Brille betrachtete.
Rose wusste nicht, was es darauf antworten sollte. Daher zuckte es mit den Schultern. Es verstand noch immer nicht wirklich, was hier geschehen war. Vielleicht würde es irgendwann mehr verstehen – irgendwann, wenn es mehr über die alte Welt und ihre Werte gelernt hatte.
Papa, der sich mit Jamals Eltern unterhalten hatte, kam zu ihnen hinüber. Er legte Rose eine Hand auf die Schulter. „Lass uns nach Hause gehen, ja?“
Rose nickte. „In Ordnung.“ Es konnte nur hoffen, dass der Stein und die Gebete die Geister beruhigte. Denn wenn es ehrlich war, wollte es von hier nicht wegziehen. Es wollte hierbleiben. Immerhin mochte es seine neue Schule und sein neues Zimmer.
„Bis dahin, Jamal“, sagte es.
Er drehte sich zu ihm um. „Ja, bis übermorgen in der Schule.“
Rose schenkte ihm ein Lächeln, dann legte es die Hand in die von Papa, um mit ihm zusammen nach Hause zurückzukehren.
Das Beitragsbild stammt von Unsplash.