Die Lüge von der Mary Sue

Kennt ihr schon Mary Sue? Natürlich kennt ihr Mary Sue. Das knappe Wort, das einen eigenen Charakter in einer Fanfic beschreibt, der eine Spur zu perfekt ist, oder vielleicht eher einfach zu viel kann und zu sehr gemocht wird. Wer in der Fanfiction-Szene unterwegs ist, ist irgendwann einmal über so eine Geschichte gestolpert. Doch in letzter Zeit wird das Wort nicht nur für Charaktere in Fanfictions benutzt.

Denn wenn man einige Fans fragt, sind diverse kanonische Charaktere nun auch Mary Sues. Vor allem wenn sie weiblich sind und die Hauptrolle einzunehmen. Umso mehr, wenn es in einem Franchise ist, in dem bisher die Protagonisten zumeist männlich waren. Das sehen einige Fans nicht gerne. Vor allem einige männliche Fans. Doch das Wort „Mary Sue“ ist eine Lüge.

Was ist eine Mary Sue?

Der Begriff Mary Sue kommt aus einer Star Trek Fanfiction. Einer Star Trek Fanfiction aus 70ern, die wohl gemerkt eine Parodie war. In dieser gab es eine Leutnant Mary Sue, die eine sehr kurze Parodie auf Self-Insert Charaktere war. Deshalb war sie bereits mit fünfzehn einhalb Jahren ein Leutnant, war unglaublich intelligent und kam natürlich mit allen Charakteren wunderbar aus. Halt eine übliche Mischung für eigene Charaktere: Oftmals sehr jung, sehr gut und mit allen Charakteren, die der Autor mag, befreundet oder liiert.

So wurde der Name dieses Parodie-Charakters zum Namen für einen Trope. Halt Fanfiction-Charaktere, die halt einige Eigenschaften hatten, die in der Welt der Serie, zu der sie sind, unwahrscheinlich und ein wenig übertrieben sind. Das kann arg variieren, was es betrifft, sind doch die Powerlevel in verschiedenen Serien unterschiedlich. Klassische Beispiele sind die Hogwarts-Schülerin, die Halb-Veela, Viertel-Vampir, Achtel-Werwolf ist, die beste Quidditsch-Spielerin seit langem und natürlich ein seltsames Band zu einem Charakter hat, der Naruto-Charakter mit dem mysteriösen Chakra, das in der Welt nicht möglich wäre, und einem Bijuu, von dem nie jemand was gehört hat, oder der Pokémon-Trainer mit einem Team legendärer Pokémon.

Und nein, da das auch sehr verbreitet ist: Mary Sues müssen nicht perfekt sein. Sie müssen nicht fehlerfrei sein. Und ein fehlerfreier Charakter ist nicht unbedingt eine Mary Sue. Viel mehr sind Mary Sues etwas sehr, sehr Besonders für die Welt, in die sie hineingeschrieben werden.

Wenn der Kanon schon übermächtig ist

Der Begriff „Mary Sue“ wird allerdings schon lange inflationär gebraucht. Jeder Charakter, der irgendwie sehr mächtig ist, gilt schnell als Mary Sue. Nicht, dass ich es nicht in manchen Fällen verstehen könnte. Gerade in dem Genre der Light-Novel-Isekai-Anime-Adaptionen, allen voran, Sword Art Online, werden die Protagonisten gerne Gary Stu getitelt. Das männliche Gegenstück zu Mary Sue.

Warum? Nun, letzten Endes weil sie in ihrer eigenen Welt übermächtig sind. Viele dieser Charaktere folgen Kirito, dem Helden von Sword Art Online, in den Fußstapfen. Sie sind aus irgendwelchen Gründen so gut, in dem was sie tun, dass zu keinem Zeitpunkt wirklich Spannung aufkommen kann. Denn Zweifel daran, dass der Held nicht doch etwas kann, um den Gegner zu besiegen, kommt nie auf.

Und wo wir bei Anime sind: Auch Shonen-Anime neigen zu einem immensen Power Crawl. Schaut euch nur an, wo Dragonball mittlerweile ist. Gott-Level-Kämpfe. Ein wenig übertrieben ist es schon. Doch kann man Son Goku damit als Gary Stu bezeichnen? Eigentlich nicht, so ist der Begriff doch für eigene Charaktere gedacht. Aber was ist mit den eigenen Charakteren, die in diese Welt kommen?

Die Levelfrage

Denn wer jetzt eine Fanfiction schreiben will, die zur Zeiten von Dragonball Super spielt, und dort einen eigenen Charakter mitspielen lassen will, muss diesen halt kräftemäßig anpassen. Sollte an sich nichts dabei sein, oder? Mit Multiversen ist es an sich nicht schwer zu erklären, warum man nun diesen einen supermächtigen Charakter hat. Die Begründung muss halt nur zum gegebenen Canon passen.

Denkste jedenfalls. Denn ich kann euch garantieren, dass egal wie kanonisch stimmig die Erklärung ist: Der Charakter wird, sobald er weiblich ist, als Mary Sue betitelt werden. Ja, auch der kanonische, weibliche neue Saiyajin wurde prompt als Mary Sue abgestempelt. Immerhin kann sie sich in kürzester Zeit zum Super Saiyajin verwandeln. Total unglaubwürdig, sagen die Fans, die bisher schluckten, dass Goten und Trunks diese Fähigkeit bereits als Kinder und ohne spezielles Training hatten.

Die Mary Sue Lüge

Und damit kommen wir zum eigentlichen Problem: Weibliche Charaktere, die irgendwo auf dem Level von Männern spielen. Vor allem in etablierten Franchises. Dabei müssen sie nicht einmal Protagonisten sein. Das erste Mal richtig weitreichend ist es mir bei Avatar – The last Airbender aufgefallen. Denn hier behaupteten einige Fans, dass Katara eine Mary Sue sei. Immerhin lernt sie alle ihre Fähigkeiten in kürzester Zeit. Aang dagegen, der alles und noch viel mehr in genau so kurzer Zeit lernt, bezeichnete kaum jemand so.

Heftiger wurde es jedoch mit The Legend of Korra. Denn laut einigen Leuten war Korra nun definitiv ganz bestimmt eine Mary Sue. Warum? Weil sie ja der Avatar und so gut darin war. Offenbar. Später, weil sie zwei besondere Bending-Stile, lernte. Dass aber Aang dieselben Fähigkeiten, wie Korra, in viel kürzerer Zeit lernte wurde ignoriert. Die Tatsache, dass sie als Kind grobe Kontrolle hatte – selbst wenn sie mehr als zehn Jahre für die Feinkontrolle brauchte – reichte.

Damit kommen wir zum Elefant im Raum. Denn es gibt einen Charakter, der von einem halben Fandom als Mary Sue verteufelt wird: Rey in Star Wars. Warum? Nun, böse gesagt, einfach nur weil sie ein weiblicher Charakter in einer bisher männlich dominierten Reihe ist. Es gibt wenig an ihr, was wir nicht auch in anderen kanonischen Charakteren bereits sehen. Aber ja, sie ist eine Frau, noch dazu eine Frau, die kein Love Interest ist, und das ist das Problem.

Das lässt sich übrigens ähnlich auch über diverse andere Frauenfiguern sagen, die diesen Erwartungen nicht entsprechend und Heldinnen ihrer Filme und Serien sind. Michael aus Star Trek Discovery, Furiosa in Mad Max Fury Road und auch über Carol Denvers im MCU wurden diese Vorwürfe bereits vor Film-Release laut. Kurzum: In Augen mancher Fans sind beinahe alle fähigen Protagonistinnen Mary Sues.

Das ist keine Mary Sue

Wenn man online schaut, findet man lange breite Diskussionen darüber, warum bestimmte Charaktere nun Sues seien und Tipps für Fanwork-Autoren, wie man diese vermeidet. Was man in dem Kontext auch findet, sind die „Mary Sue Tests“. Der bekannteste ist wohl dieser hier, den ich früher auch mit Begeisterung empfohlen habe.

Aber genau wenn man diesen Test verwendet merkt man auch schnell, wie wenig uns Mary Sues stören. Gerade männliche Figuren, die laut diesem Test in der „Definitely Mary Sue“ Kategorien landen haben wir en masse in bekannten Medien. Harry Potter, Sherlock Holmes, Aang, Luke Skywalker, Dr. House, einen beliebigen MCU-Helden oder, wenn man an die obere Grenze will, Lestat de Lincourt.

Und ja, natürlich habe ich bei den meisten dieser Figuren schon einmal „Ein wenig Mary Sue ist der Charakter ja schon“ Diskussionen gesehen (speziell bei Harry oder Lestat), doch der frivole Hass, der auf weibliche Figuren gelenkt wird? Nein. Schon gar kein „Wie kannst du das schauen? Luke ist so eine Mary Sue! Man hast du einen miesen Geschmack!“

Die westlichen Fanbases

Wer dagegen zu den Leuten gehört, die die neue Star Wars Trilogie mögen, hatte sicher schon mehrfach den Spaß, Leuten zu versuchen zu erklären, dass Rey nicht wirklich besser als Luke ist. Gerne werden dabei Aspekte aus den Filmen falsch dargestellt und die alten Bücher, die die damaligen Filme erweitert haben, herangezogen, um Fähigkeiten Lukes zu erklären, die rein aus Filmsicht ziemlich unerklärlich für einen Farmerjungen sind.

Die Moral am Ende ist jedoch einfach: Luke ist ein männlicher Charakter. Der darf das. Er ist außerdem ein Charakter, mit dem man aufgewachsen ist. Ein Grund mehr, es zu dürfen. Rey dagegen ist neu und weiblich. Deswegen muss jeder Aspekt ihrer Fähigkeiten bis ins kleinste Detail im Film erklärt werden.

Das dahinter eine Doppelmoral steht, erklärt sich von selbst. Es ist etwas, das sich in westlichen Fandoms immer weiter verbreitet hat, wenn es um weibliche Figuren geht. Und ja, die Leute, die darüber diskutieren, sind in erster Linie welche, die schon sauer sind, wenn eine Serie mit weiblichem Hauptcharakter oder gar diversem Cast angekündigt wird. Diskussion ist meist unmöglich – schließlich bist du ja kein „echter Fan“.

Wir brauchen „Mary Sue“ nicht

Warum ich diesen Eintrag letzten Endes schreibe, ist für eine Bitte: Verzichtet einfach auf den Begriff „Mary Sue“ – jedenfalls, wenn es nicht um Fanfictions geht. Selbst bei Fanfictions: Verzichtet darauf, den Begriff für jeden eigenen Charakter, speziell für jeden eigenen weiblichen Charakter zu nutzen. Ich weiß, es fällt schwer, denn ich habe auch ein paar Charaktere, für die sich der Begriff sehr passend anfühlt, doch letzten Endes war er nie dafür gedacht, kanonische Charaktere zu beschreiben. Auch nicht, wenn es einen Power Crawl gibt.

Es gibt andere Worte. Worte, die eine deutliche Bedeutung haben, deren Bedeutung genau definiert ist. Worte, die nicht einfach nur leeren Hüllen sind und weit mehr Möglichkeiten zu einer vernünftigen Diskussion geben. Wenn ihr denkt, dass ein Charakter übermächtig ist, dann benutzt das Wort übermächtig. Wenn ich denkt, dass ein Charakter unglaubwürdig ist, dann sagt es auch so.

Vor allem aber: Anstatt einfach nur einen Charakter schlecht zu reden, macht euch Gedanken darüber, warum ihr das so empfindet. Überlegt, warum euch bestimmte Aspekte so stören. Und denkt auch darüber nach, speziell wenn es ein weiblicher Charakter ist, ob ihr das genau so sehen würde, wäre der Charakter männlich dargestellt. Danke.

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Das Beitragsbild wurde den Memoirs of Sherlock Holmes entnommen. Das Bild wurde von Sidney Paget gezeichnet und ist mittlerweile Teil des Public Domains.