Die Geschichte der „Zwangsverschwulung“

Heute reden wir über ein kleines Stück queere – oder eher queerfeindliche – Geschichte. Ein Stück Geschichte, das eng mit der Fanfiction- und RPG-Szene der 2000er zusammenhängt. Es geht um das Konzept der „Zwangsverschwulung“.

Die Anime-Fanszene der 2000er

Drehen wir die Uhr also ein wenig zurück. Na ja, nicht nur ein wenig, ein ganzes Stück! Wir gehen zurück in die frühen 2000er Jahre. Ein großer Teil der Diskussion, die wir heute besprechen wollen, hat sich zwischen 2004 bis 2007 abgespielt, selbst wenn es seinen Schatten sogar bis 2017 noch geworfen hat.

Animes laufen gerade noch den ganzen Nachmittag auf RTL2 und haben sogar vernünftige Synchronisationen. Animexx war in seiner Hochzeit. Es gibt jede Menge gut besuchter Anime- und Manga-Conventions. Fanfiktion.de tiefte noch nicht vor Trans- und Frauenfeindlichkeit. Twitter un Facebook waren noch in den Kinderschuhen. Es war in Sachen Fandom.

Mit diesen damals noch sehr aktiven deutschen Fanfiction-Fanseiten kam natürlich auch eine Menge Fanfiction. Das hieß viel Fanfiction zum einen zu Harry Potter, aber auch zu einigen der größeren Anime-Serien, die so auf RTL2 liefen. Digimon, Yu-Gi-Oh!, Naruto, One Piece … Fanfictions gab es viele. Genau so gab es zu diesen beliebten Serien eine Menge RPGs in extra dafür eingerichteten Foren oder dem RPG-Bereich auf Animexx.

Und in diesem Zusammenhang kam auch ein neues Modewort auf: Zwangsverschwulung.

Was ist „Zwangsverschwulung“?

Doch widmen wir uns erst einmal der offensichtlichen Frage: Was bedeutet „Zwangsverschwulung“? An sich ergibt sich das ganze schon aus dem Wort heraus: Jemand wird dazu gezwungen schwul zu sein – das, oder jemand hat einen Zwang irgendwie etwas Schwules zu tun.

Tatsächlich kam der Begriff im Zusammenhang mit dem damals noch „Shônen-Ai“ genannten Genre und seinem älteren Bruder „Yaoi“. Shônen-Ai, heute Boys Love genannt, beschreibt im Japanischen Geschichten, in denen es um eine schwule Beziehung geht. Das Genre ist – anders als „Bara“, das Mangagenre von schwulen Männern für schwule Männer – vorrangig an junge Frauen gerichtet. Frei nach dem Motto: „Was ist besser als ein hübscher Mann? Zwei (oder mehr) hübsche Männer.“

„Yaoi“ – ein Begriff dessen Bedeutung bis heute umstritten ist – ist die etwas anzüglichere Version des Genre. Während Boys Love/Shônen-Ai relativ zahm und eher zuckrig romantisch ist, geht es bei Yaoi auch einmal ordentlich zur Sache. Sprich: Es gibt Sex, um genau zu sein in den meisten Fällen Analsex.

Dabei beschreiben beide Genre allerdings nicht nur die Manga-Genre, sondern auch Fanfictions, die dazu geschrieben wurden. Und genau hier kam es oft zum Konflikt: Denn in Fanfictions wurden auch diverse männliche Figuren, die im Original-Material nicht explizit schwul oder in einigen Fällen sogar explizit hetero waren, in diesen Genre mit anderen männlichen Figuren verpaart. Beispiele dafür wären Harry und Draco aus Harry Potter, Taichi (Tai) und Yamato (Matt) aus Digimon und Seto Kaiba und Jonouchi (Joey) aus Yu-Gi-Oh!

Das war einigen ein Dorn im Auge und so kam der Begriff „Zwangsverschwulung“ auf. Laut diesem Ansatz wurden Charaktere zum Schwul-Sein gezwungen.

Problematische Yaoi-Tropes

Doch schauen wir uns einmal die beiden Genre Shônen-Ai und Yaoi und speziell ihre Umsetzung in Fanfictions und RPGs an und was es abgesehen von Queerfeindlichkeit für Gründe gab, warum sich Leute an diesen Genres gestört haben. Denn tatsächlich gab es einige problematische Tropes, die sich durch viele dieser Fanfictions und RPGs hindurch gezogen haben.

Misogynie

Eine sehr offensichtliche Sache, die im Kontext dieser Diskussionen immer wieder aufkam, war eine sehr deutliche Misogynie von vielen der Autor*innen, die Shônen-Ai und Yaoi geschrieben haben. Wohlgemerkt in vielen Fällen internalisierte Misogynie, da diese Genre vorrangig von Mädchen und jungen Frauen geschrieben wurden.

Aber ja, nicht selten wurde als Grund, warum die männlichen Charaktere miteinander verpaart wurden, genannt, dass die weiblichen Charaktere „langweilig“, „doof“ oder „nervig“ wären. Teilweise gab es richtige Hass-Kults auf verschiedene weibliche Charaktere – gerade in Fällen, wo diese weiblichen Charaktere die kanonischen Love-Interests der etwaigen beliebten männlichen Charaktere waren.

Dieser Hass auf die weiblichen Charaktere spielte auch in die Geschichten mit hinein. Nicht in alle, doch es gab eine nicht unerhebliche Untergruppe in den Genre, in denen die weiblichen Charaktere im Text gebasht wurden. Beispielsweise indem die männlichen Charaktere über sie schimpften oder indem der Erzähler über sie herzog. In einigen extremen Fällen wurden die weiblichen Charaktere auch auf brutale Art und Weise innerhalb der Fanfiction ermordet.

Ja, das hat halt bei vielen Leser*innen auch zu einer gewissen Abneigung gegen das Genre kam.

Uke & Seme

Ein weiteres Problem, das vor allem früher in den Genre gegeben war, war die Einteilung der Charaktere in „Uke“ und „Seme“. Beide Begriffe kommen ursprünglich aus der japanischen Kampfkunst. Dort bedeutet beim Training „Uke“ der passive Part, während der „Seme“ der aktive Part ist, der beispielsweise einen Wurf übt.

Allerdings wurden die beiden Begriffe im Kontext von Shônen-Ai neu definiert. Hier ist der „Uke“ ein sehr passiver, sehr feminin überzeichneter Charakter, während der „Seme“ hypermaskulin und aktiv, wenn nicht sogar aggressiv ist. Kommt es zu Yaoi, also Sexszenen, ist der „Uke“ derjenige, der penetriert wird, der „Seme“ derjenige, der penetriert.

Dieses rigide Muster ist natürlich schon an sich problematisch. Denn effektiv wird mit diesem Muster eine (oft toxische) heterosexuelle Beziehungsdarstellung auf ein homosexuelles Paar angewandt. Frei nach dem Motto „Einer muss die Frau in der Beziehung sein“. Das geht natürlich an tatsächlichen homosexuellen Beziehungsdynamiken vorbei.

Dazu kommt, dass es in Fanfictions einen sehr schlechten Ruf bekommen hat, da es dazu geführt hat, dass die Charaktere oftmals OoC („out of character“) waren. Immerhin werden so die Seriencharaktere in erster Linie als „Uke“ und „Seme“ geschrieben und nur in zweiter Linie als die Abbildungen, die sie eigentlich in den Vorlage-Serien darstellen.

Missbräuchliche Beziehungen

Aus der „Seme/Uke“ Dynamik heraus, ergibt sich ein anderes Problem, dass viele Fanfictions und RPGs aufgezeigt haben: Die dargestellten Beziehungen sind häufig im höchsten Maße toxisch und missbräuchlich.

Denn wie schon gesagt: Der „Seme“ wird in diesen Geschichten häufig als sehr aggressiv dargestellt und ist meistens auch ein klassischer Bad Boy. Derweil ist der „Uke“ komplett passiv und setzt dem „Seme“ entsprechend nichts entgegen. Entsprechend ist der „Uke“ in so vielen Geschichten den Wut- und Eifersuchtsanfällen des „Seme“ ausgesetzt und lässt das alles brav über sich ergehen.

In Yaoi-Konstellationen geht es dann soweit, dass der „Seme“ seinen „Uke“ mehrfach vergewaltigt. Das ist auch in Manga des Genre leider sehr üblich: Einvernehmen wird selten sichergestellt und es gibt diverse Geschichten, in denen der „Uke“ deutlich „Nein“ sagt und es einfach übergangen wird. Da es eben auch in den entsprechenden Manga so regelmäßig vorkam, ist es natürlich kaum verwunderlich, dass es entsprechend in Fanfictions und RPGs imitiert wurde.

Natürlich sei an dieser Stelle dazu gesagt, dass es in heterosexuellen Smut-Romanzen (also heterosexuelle erotische Romanzen für junge Frauen) nicht viel besser aussah. Auch die dort dargestellten Beziehungen waren oft missbräuchlich und der Sex war oftmals nicht komplett einvernehmlich – auch das wurde natürlich in entsprechenden Fanfictions nachgestellt.

Fetischisierung

Zuletzt ist da noch der allgemeine Punkt, den Shônen-Ai und Yaoi mit sich gebracht haben: Die Fetischisierung männlicher Homosexualität. Das war damals immer wieder ein Problem und zeigt sich selbst heute noch, wenn man auf Conventions und dergleichen unterwegs ist.

Denn mit dieser Idealisierung von schwulen Beziehungen führte auch dazu, dass diese Beziehungen als etwas angesehen wurde, was konsumiert werden konnten. Auch, wenn es reale homosexuelle Beziehungen waren. Das hat dazu geführt, dass auf Conventions zum Beispiel homosexuelle Paare regelrecht gestalkt wurden und über jede kleine Form der Zuwendung zwischen dem Paar gequietscht wurde. Auch wenn zwei Männer, vor allem hübsche Männer, gemeinsam auf einer Convention waren, kam es vor, dass es „Küsst euch“ Rufe gab, selbst wenn sie nicht ein Paar waren. Das galt doppelt, wenn sie in Cosplays unterwegs waren.

Natürlich lässt sich diese Fetischisierung auch in den entsprechenden Fanfictions und RPGs nachlesen. Gerade, wenn die Geschichten in die Erotik abdriften, war oft eine Menge Fetischisierung dabei. Das ist etwas, das natürlich auch einigen Leuten berechtigt übel aufgestoßen ist.

Und von der Geschichte mit dem Yaoi-Paddel fangen wir besser gar nicht an.

Die Sache mit RPS

Bevor wir kritisch darüber reden, warum die Darstellung von schwulen Paaren als „zwangsverschwult“ problematisch ist, sollten wir allerdings noch über ein angrenzendes Thema sprechen: RPS, kurz für „Real Person Slash“. Anders gesagt: Das verpaaren (bei RPS meist schwules Verpaaren) von realen Personen, wie beispielsweise Schauspieler*innen, Musiker*innen und anderen Personen öffentlichen Interesses.

Anders als bei fiktionalen Figuren lassen sich hier zwei Sachen feststellen: 1) Diese Personen haben eine tatsächliche Sexualität. 2) Es ist übergriffig Fanfictions oder RPGs über reale Personen zu schreiben.

Gerade zweiteres ist ein großes Problem. Denn reale Personen können natürlich recht wenig dagegen machen, wenn jemand Fantasien über sie hat, nein. Die Gedanken sind frei. Aber in dem Moment, wo diese Fantasien in die Öffentlichkeit getragen werden und teilweise explizite Geschichten über die realen Personen geschrieben werden, ist dies den Personen gegenüber sehr übergriffig.

Das gilt insbesondere, wenn die Personen sich dazu geäußert haben und darum gebeten haben, so etwas zu unterlassen, wie bspw. bei der japanischen Musikgruppe Dir en Grey oder den Schauspieler*innen des Harry Potter Franchises geschehen (bei zweiteren doppelt so, da diese teilweise noch minderjährig waren, während die Geschichten geschrieben wurden).

Damit sollte das anders behandelt werden, als das Schreiben von solchen Geschichten über fiktionale Figuren.

Das Problem der Heteronormativität

Kommen wir also zurück zu den fiktionalen Figuren. Wir haben festgehalten: Es gab einige durchaus berechtigte Kritiken über die Art von Fanfictions und RPGs, die damals zu diesen Paaren geschrieben haben. Allerdings ist „Zwangsverschwulung“ nicht wirklich eine davon. Woher kommt diese Idee überhaupt?

Immerhin müssen wir auch deutlich sagen: Die wenigsten der Figuren in diesen fraglichen Serien haben eine explizite Sexualität. Denn diverse dieser Serien interessieren sich nicht einmal für Romantik und stellen Kämpfe und dergleichen in den Vordergrund und selbst da, wo die Charaktere in Beziehungen sind, so sagen diese nun einmal nicht zwangsweise etwas über ihre Sexualität aus. Schließlich gibt es genug Leute, die erst später im Leben feststellen, dass sie eigentlich homosexuell sind.

Dennoch ist eine der Grundlagen des ganzen „Zwangsverschwulungs-“Arguments, dass die Charaktere eigentlich heterosexuell seien, also damit in die Homosexualität „gezwungen“ würden. Wie gesagt: Dabei haben viele keine kanonische Sexualität.

Das ganze geht natürlich auf ein Konzept zurück, dass ich vor ein paar Jahren hier schon einmal besprochen habe: Heteronormativität.

Hinter diesem Wort verbirgt sich die Weltsicht, dass „hetero“ der Standard ist. Sprich: Solange nicht anders definiert wird angenommen, dass ein Mensch (fiktional oder real) allo- und heterosexuell ist. Das ist auch dieselbe Grundlage, die dazu führt, dass queere Menschen sich immer wieder outen müssen, wenn sie nicht wollen, dass falsche Annahmen über sie gemacht werden.

Internalisierte Queerfeindlichkeit

Genau dieses heteronormative Weltbild ist eben die Grundlage hinter dem Konzept der „Zwangsverschwulung“. Denn gleichzeitig käme bei diesen Charakteren, die offiziell keine sexuelle Orientierung haben, niemand auf die Idee von einer „Zwangsverheterung“ zu sprechen – obwohl diese heterosexuelle Orientierung oft genau so herbeifantasiert ist, wie eine etwaige homosexuelle Orientierung.

Allerdings spielte damals, als dieser Diskurs besonders hochschäumte, auch noch eine andere Sache mit hinein: Internalisierte Queerfeindlichkeit. Denn die Anime-/Manga-Szene war für viele Leute der Einstieg in die LGBTQ-Community. Gerade diverse queere Menschen waren stark aktiv darin, diese Fandoms am Leben zu halten – so waren diese Geschichten auch für viele ein Ort, um ihre eigene Queerness zu erkunden.

Gleichzeitig waren aber auch auf der anderen Seite, denjenigen, die sofort „Zwangsverschwulung“ riefen viele queere Leute dabei – ich bin selbst das beste Beispiel, habe ich diese Argumentation damals doch auch genutzt. Das hing halt viel mit internalisierter Heteronormativität und der damit verbundenen Queerfeindlichkeit zusammen. Entsprechend war dieser Hass und diese Wut auf diese Art von Pairing teilweise auch auf internalisierten und selbstschädlichen Einstellungen zusammen.

Es gibt keine Zwangsverschwulung!

Was lässt sich also jetzt zum Thema „Zwangsverschwulung“ sagen?

Nun, es lässt sich festhalten, dass die Fanfiction-Szene der frühen 2000er gleichzeitig ein Ort war, an dem viele Autor*innen ihre eigene Queerness erprobt haben, als auch ein Ort, der an vielen Stellen massiv von internalisierter Heteronormativität geprägt war. Daraus ergab sich ein massives Spannungsfeld, dass sich halt in der Diskussion um die „Zwangsverschwulung“ entladen hat.

Natürlich muss gesagt werden, dass es durchaus kritikwürdige Aspekte der Darstellung von homosexuellen Beziehungen in diesen Geschichten gab. Die feste Einteilung der Charaktere in „Uke“ und „Seme“ gehört zum Beispiel dazu. Auch kamen diverse Geschichten (auch der in Deutschland veröffentlichten Manga) mit nicht-einvernehmlichen Sex und ähnlich toxischen Aspekten daher – wobei sich hier dasselbe auch über die heterosexuellen Geschichten sagen lässt. Dies war ein allgemeines Problem der Szene, das teilweise auch noch bis heute anhält.

Allgemein lässt sich feststellen, dass es keine „Zwangsverschwulung“ gibt. Denn dies setzt voraus, dass fiktionale Charaktere eine feste Sexualität haben, was sie allerdings nicht tun. Sie sind fiktional. Daher ist das ganze Konzept einfach nur eine Folge der Heteronormativität. Zum Glück ist diese Diskussion in den letzten Jahren zurückgegangen, selbst wenn dies eventuell auch daran liegen mag, dass die deutsche Fanfiction-Szene langsam ausstirbt und gerade die queeren Autor*innen mittlerweile eher dazu übergegangen sind, eigene Geschichten zu schreiben.


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Das Beitragsbild stammt von Unsplash.