Dekolonialisierung der Phantastik: Kultur und Sprache

Kommen wir zum letzten geplanten Beitrag der Dekolonialisierung der Phantastik. Dieses Mal geht es um Sprachen, die in Fantasy und Science Fiction gesprochen werden – und den kolonialen Ideen, die häufig hinter diesen Sprachen stecken.

Dieser Aufsatz gehört zu der Reihe Dekolonialisierung der Phantastik und ist der letzte fest geplante Beitrag der Reihe, auch wenn es nächstes Jahr noch ein paar Bonus-Beiträge zur Reihe geben wird.

CN: Genozid

Die Sprachen fiktionaler Welten

Sprachen sind eine Obsession der Phantastik-Autor*innen und -Leser*innen. Sehr oft gehört zum Weltenbau auch der Bau einer Sprache dazu – einer sogenannten Conlang. Das große Vorbild ist hier bei vielen natürlich Tolkien, der nicht nur eine Sprache, sondern einen ganzen Sprachstammbaum für sein Elbisch (oder Quenya) entwickelt hat. Es handelt sich um eine komplette Sprache, die man lernen und mit der man sich auch in der Realität verständigen kann.

Was für die Fantasy-Fans Elbisch ist, ist für den Science Fiction Fan Klingonisch, die wohl bekannteste Conlang aus Star Trek. Auch hierbei handelt es sich um eine komplette Sprache, die in der Realität Menschen lernen und in der man miteinander kommunizieren kann. Es gibt sogar diverse Bücher, die sich – mehr oder weniger als Gag – in klingonischer Sprache kaufen lassen.

Kurzum: Sprachen standen schon immer im Zentrum des Interesses für viele Fans der Phantastik. Immerhin können sie viel über die verschiedenen Welten aussagen, geben gleichzeitig der eigenen Welt das gewisse Etwas, um sie von anderen Welten zu unterscheiden. Dennoch finden wir in der Anwendung von Sprachen auch viele koloniale Ideen. Allen anderen Dingen voran in der Idee einer Gemeinsprache.

Gemeinsprachen

Auch Gemeinsprachen sind eine Idee, die wahrscheinlich auf Tolkien zurückgeht. Den prinzipiell spricht fast jedes intelligente Wesen in Mittelerde Westron. Der Dialog im Hobbit und Herr der Ringe findet beinahe komplett in Westron statt. Von Hobbits hin zu Orks: Sie alle sprechen Westron und können sich so miteinander verständigen. Natürlich haben auch Elfen und Zwerge die Sprache als Fremdsprache gelernt, sie haben ja Zeit.

Doch wenn man ein wenig darüber nachdenkt, wirkt dieser Umstand ein wenig seltsam. Hobbits beispielsweise leben sehr isoliert vom Rest der Welt, dennoch teilen sie eine Sprache mit ihm? Mehr noch: Westron ist die Muttersprache von Hobbits. Wieso? Während es irgendwie Sinn ergibt, dass Zwerge die Sprache zum Handeln beherrschen und Elben sie einfach lernen, weil sie die Zeit dafür haben, wird es auch bei Orks seltsam. Was für einen Grund hätten Orks diese Sprache zu lernen?

Eine solche Idee von Gemeinsprachen findet sich allerdings durch viele Fantasy- und SciFi-Franchises hindurch. Egal, ob wir von der Welt aus der Hexer-Saga oder von Star Wars oder Star Trek sprechen, all diese Welten haben eine Gemeinsprache, die die meisten Leute einfach gelernt haben, selbst wenn sie auch eigene Sprachen haben.

Dies ist natürlich damit begründet, dass die Handlung sonst schnell verkompliziert würde. Immerhin brauchten sonst die Charaktere Dolmetscher, die helfen. Allein um Charakterinteraktion zu haben, sind Gemeinsprachen unglaublich hilfreich. Dennoch sind sie nicht unproblematisch.

Englisch – Unsere Gemeinsprache?

Es gibt natürlich auch in unserer Welt eine Sprache, bei der halb erwartet wird, dass jemand sie spricht, wenn si*er international agieren will. Diese Sprache ist natürlich Englisch. Internationale Geschäfte werden genauso, wie diverse internationale politische Veranstaltungen auf Englisch abgehalten. Wer in ein fremdes Land reist und dessen Sprache nicht beherrscht, sollte zumindest Englisch beherrschen, immerhin sind die Chancen damit ganz gut, jemanden zu finden, mit dem man interagieren kann.

Sprich: Englisch hält in unserer Welt dieselbe Position, die viele der „Gemeinsprachen“ häufig in der Phantastik einnehmen. Nicht nur, dass sie für viele internationale Veranstaltungen zum Standard gehört, es ist auch die am weitesten verbreitete Amtssprache. Über 50 Länder auf dieser Welt nutzen Englisch irgendwo als offizielle Sprache im Land – sei es im Amtswesen, im Juristischen, in der Politik und/oder der Bildung.

Wie jedoch diese Reihe bis hierhin verfolgt hat, weiß, dass sich dieser Umstand nicht daraus ergeben hat, dass Englisch eine „bessere“ Sprache ist, die einfacher zu lernen sei oder andere Vorteile hätte. Nein, die weite Verbreitung von Englisch, die ein wichtiger Faktor darin war, dass Englisch international seine Stellung erlangte, war der Kolonialismus und die Größe des britischen Imperiums.

Sprache und kulturelle Identität

Was wir nicht vergessen dürfen: Sprache hängt eng mit einer Kultur zusammen. Eine Sprache wird von ihrer Kultur geprägt, eine Kultur von ihrer Sprache. Beide Aspekte beeinflussen einander stark, da sich kulturelle Vorstellungen in der Sprache niederschlagen, aber gleichzeitig auch Konzepte, die in der Sprache bestehen, die Wahrnehmung jeder Person in dieser Kultur beeinflussen.

Ein Beispiel dafür, das viele sicherlich kennen – auch wenn es wenig mit Kolonialismus zu tun hat – ist Liebe im alten Griechenland. Während das Deutsche oder auch das Englische nur das Wort „Liebe“ kennt (was allerhöchstens durch Adjektive wie „romantisch“ oder „freundschaftlich“ oder im Deutschen durch Zusammensetzung mit einem anderen Wort wie in „Geschwisterliebe“ präzisiert werden kann), so kannte Altgriechisch verschiedene Wörter für Liebe: Eros (sexuelle Liebe), Philia (eine tiefe, meist freundschaftliche Liebe), Storge (familiäre Liebe), Agape (selbstlose Liebe) und Philautia (Selbstliebe).

Es sollte offensichtlich sein, dass eine kulturelle Vorstellung, die diesen verschiedenen Formen von Zuneigung unterschiedliche Bedeutung zuspricht, für diese sprachliche Aufteilung sorgt. Gleichzeitig ändern solche Konzepte in der Sprache auch, wie jemand, der mit dieser Sprache aufwächst, denkt – in diesem Fall über Liebe.

Beispiele dieser Art findet man praktisch in allen Sprachen. Worte, die in der einen Sprache komplex aufgeteilt sind, da sie hier als wichtig gelten, haben in einer anderen Sprache nur ein Wort. Redewendungen und Wörter, die sich auf Mythologie und Religion beziehen, schlagen sich in der Sprache nieder. Verschiedene kulturelle Konzepte haben eigene Worte oder sorgen für eine Genauigkeit, die andere Kulturen nicht kennen.

Dabei ist es nachgewiesen, das die Muttersprache sich bis ins neurologische Niederschlägt. Sprachliche Konzepte, mit denen man aufwächst, beeinflussen die Wahrnehmung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Farbe Blau. Fast alle Sprachen entwickeln ein Wort für „Blau“ als letztes von den wichtigsten Grundsprachen. Doch Menschen, die mit einer Sprache aufwachsen, die kein Wort für „Blau“ hat, sind tatsächlich schlechter darin grüne Gegenstände von blauen zu unterscheiden.

Sprache und Kultur sind eng miteinander verwoben. So eng, dass es ohne die eigene Sprache oftmals nicht oder nur schwer möglich ist, bestimmte Konzepte einer Kultur zu vermitteln – und genau da haben die Kolonialmächte oft angesetzt.

Sprachauslöschung im Rahmen von Genozid

Egal wo: Im Rahmen des Kolonialismus kam es immer wieder zu Genoziden – teilweise versucht, teilweise erfolgreich. Dabei waren diese Genozide nicht immer der Art, dass versucht wurde alle Menschen einer Kultur zu töten, schließlich hätte dies auch die Vernichtung potentieller Arbeitskraft bedeutet. Stattdessen wurde versucht die Kultur zu vernichten. Gerade in Nordamerika gab (teilweise bis in die 90er Jahre!) es viele Schulen, die versuchten indigene Kinder zur westlichen Kultur umzuerziehen. Dies waren Internate, in denen den Kindern verboten wurde, ihre eigene Kultur auszuleben, während ihnen stattdessen die westliche Kultur aufgezwungen wurde. Dazu gehörte auch, dass ihnen verboten wurde, ihre Muttersprache zu sprechen, mit dem Ziel, dass sie diese verlernen sollten.

Ähnliche Sprachverbote gab es jedoch nicht nur dort. Praktisch alle Kolonialmächte haben von ihren Kolonien verlangt, dass die etwaige Kolonialsprache dort gesprochen wurde. Dabei wurde mal mehr, mal weniger gegen die verschiedenen heimischen Sprachen vorgegangen. Mal war die Kolonialsprache einfach nur nötig, um etwaige Sachen zu bekommen, mal stand das offene Sprechen anderer Sprachen unter Strafe.

Die Folge davon sehen wir heute: Große Teile der Welt – um nicht zu sagen beinahe alle Länder außerhalb von Asien – haben eine europäische Amtssprache. Meistens Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch oder Niederländisch. Ausnahme bilden ein paar Länder, in denen arabisch die Amtssprache ist.

Von Grenzen und Sprachen

Es sei natürlich erwähnt, dass in einigen dieser Länder, die mittlerweile eine europäische Sprache als Landessprache haben, eine andere Sprache als Amtssprache zugelassen ist. Ein Beispiel hierfür wäre Aotearoa (Neuseeland), wo Maori die zweite Amtssprache ist. Dies sind jedoch Zugeständnisse, die es bei weitem nicht überall gibt – und selbst wo es sie gibt, muss die zweite Sprache keine indigene Sprache sein. Oft genug, gerade in Afrika, handelt es sich stattdessen um eine Kreolsprache – eine Sprache, die sich aus der Vermischung einer Kolonialsprache mit indigenen Begriffen und Redearten ergeben hat.

Dass es mit den indigenen Sprachen nicht so leicht ist, hängt allerdings natürlich mit einer anderen Sache zusammen, die wir bereits mehrfach angesprochen haben: Grenzen. Denn egal ob in den Amerikas oder Afrika, es wurden willkürliche Grenzen gezogen, die häufig eine Vielzahl indigener Völker plötzlich in einem Land zusammenführen. Schauen wir uns beispielsweise ein Land wie Südafrika an, gibt es eine Vielzahl von Sprachen, die dort gesprochen wird: Neben Englisch und der Kreolsprache Afrikaans als Amtssprachen, gibt es beispielsweise viele Leute die Zulu, Xhosa, Swasi, Venda, Tswana, Sesotho und noch einige andere Sprachen sprechen. Einige davon werden lokal anerkannt, aber nicht alle. In den USA und Kanada sieht es derweil noch dramatischer aus, da die indigenen Sprachen praktisch nirgends als offizielle Sprachen anerkannt werden.

Gleichzeitig ist jedoch gerade in der westlichen Vorstellung die Idee fest verankert, dass es ein Land mit klar definierten Grenzen gibt, in dem eine Sprache gesprochen wird. Damit einher geht auch häufig die Erwartungshaltung, dass jemand, di*er in einem Land lebt, dessen Sprache zu sprechen hat – ob si*er nun will oder nicht. Während dieses Argument natürlich am häufigsten in Bezug auf Immigrant*innen aufgebracht wird, findet man es in Ländern, in denen große indigene Gruppen leben, auch in Bezug darauf. Oftmals ohne Rücksicht darauf, dass die offiziell gesprochene Sprache später kam, als die indigene.

Phantastische Einheitssprachen

Was nun phantastische Werke tun, in denen eine Gemeinsprache über einen ganzen Kontinent oder, wenn wir von Science Fiction sprechen, durch eine ganze Galaxie verbreitet ist, ist diese Erwartungshaltung zu einem gewissen Grad zu normalisieren. Effektiv sagt diese Darstellung: „Es gibt eine Gemeinsprache, also mach es anderen nicht unnötig kompliziert, sondern lerne diese Sprache.“ Dabei ist es nicht einmal konsistent so, dass es einen guten Grund dafür gibt, warum eine bestimmte Sprache so weit verbreitet ist. In vielen, sehr vielen Fantasy-Welten im speziellen ist es halt so. Eventuell gibt es sogar in der ganzen Welt nur eine Sprache (man schau zum Beispiel zur Avatar-Serie, in der alle vier Nationen eine Sprache teilen), weil es halt einfacher ist – obwohl dies häufig keinen Sinn macht, wenn man die unterschiedlichen Namensschema verschiedener Kulturen in der Welt bedenkt.

Tatsächlich allerdings machen sich die großen Science Fiction Franchises, namentlich Star Wars und Star Trek, dessen noch deutlicher schuldig. Bei Star Wars gibt es expliziten Kolonialismus, der jedoch als positiv dargestellt wird, solange er von der Republik ausgeht. Mit dem Kolonialismus geht einher, dass erwartet wird, dass die Planeten (die seltsamerweise wenn überhaupt eh eine Sprache pro Planet haben) das galaktische Basic als Sprache annehmen. Star Trek ist derweil eigentlich nicht kolonialistisch, aber dennoch sprechen scheinbar die meisten Kulturen innerhalb der galatischen Föderation dieselbe Sprache.

Von TARDIS und Babelfischen

Es sei natürlich noch die andere Methode erwähnt, die wir im Zusammenhang mit Sprachen vor allem in Science Fiction sehen, ist die Methode eine Art Babelfisch einzufügen. Kurzum: Es gibt eine Technologie, die als universaler Übersetzer dient. Das Wort Babelfisch entstammt natürlich Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxie“, aber auch Doctor Who hat ein ähnliches Konzept, indem erklärt wird, dass die TARDIS für die Reisenden übersetzt.

Beide Beispiele haben natürlich eins gemeinsam: Die Protagonisten entstammen unserer Welt und enden im Weltall (oder im Fall von Doctor Who teilweise auch in der Vergangenheit unserer Welt). Dabei ist ein großer Faktor, dass hier für viele die „Suspension of Disbelief“ größer wäre, würden die Aliens unsere Sprache sprechen. (Nicht, dass es andere Franchises davon abhält, das ganze Weltall Englisch sprechen zu lassen.)

Wobei es dergleichen auch in anderen Geschichten gibt – selbst Fantasy kennt Fälle, wo ein magischer Zauber einfach alles übersetzt. Dies ist eine Lösung, mit der man erklären kann, wie die Charaktere kommunizieren, ohne direkt die koloniale Idee der Gemeinsprache einzubringen.

Allerdings sollte auch hiermit vorsichtig vorgegangen werden. Eine Sache, die nicht vergessen werden darf: Selbst wenn magische oder hoch technologische Übersetzung verwendet wird, kann es Konzepte in den fremden Sprachen geben, die sich nicht übersetzen lassen. Entsprechend könnten fremde Wörter oder gar ganze fremde Sätze auftauchen, mit denen ein solcher Zauber, bzw. eine solche Technologie überfordert ist.

Sprachliche Diversität

Sehr viele phantastische Geschichten, die eigene Welten darstellen – egal, ob es sich dabei um eine mittelalterliche Fantasy-Welt oder um ein hochtechnologisierte intergalaktische Föderation handelt – neigen dazu eine Gemeinsprache zu präsentieren, in der über ein Land oder eine Kultur in dieser Welt hinaus kommuniziert wird. Dies wird genutzt, um die Kommunikation in der Geschichte zu erklären, macht aber häufig keinen Sinn. Denn welch einen Grund hätte eine Kultur, wie die Orks in Herr der Ringe, weitläufig die Gemeinsprache zu erlernen? Einzelne Orks gäbe es sicher, doch die Orks allgemein?

Das Problem dabei ist, dass das Verbreiten einzelner bestimmter Sprachen eng mit dem Kolonialismus zusammenhängt. Denn auch im Kolonialismus haben die Kolonialmächte anderen Kulturen ihre Sprachen aufgedrängt, was dazu geführt hat, dass diese Sprachen heute in der realen Welt eine sehr ähnliche Funktion haben, wie die Gemeinsprachen der phantastischen Welten. Ein solcher Weltenbau normalisiert damit also diesen Aspekt der realen Welt.

Es sollte nicht vergessen werden, dass Sprache und Kultur eng miteinander zusammenhängen und sich Sprachen ganz automatisch in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich entwickeln. Das ist ein Aspekt, den die Phantastik leider häufig unterschlägt.

Letzten Endes wäre zu hoffen, ein paar mehr Geschichten mit Dolmetschern und Sprachtalenten, anstatt so vieler Geschichten mit seltsam weit verbreiteten Gemeinsprachen zu sehen.


Quellen und weiterführende Links


Das Beitragsbild stammt von Unplash.