Dekolnialisierung der Phantastik: Die Theorie des „großen Mannes“

Passend zu Kolonialismus und Geschlechterrollen möchte ich ein Thema ansprechen, das eng damit zusammenhängt. Es hat damit zu tun, wie allzu oft Geschichte unterrichtet wird – und wirkt sich auch stark darauf aus, wie wir Fiktion schreiben. Die Rede ist von der „Theorie der großen Männer“, die leider oft unbewusst unsere Betrachtung von Geschichte beeinflusst.

Dieser Beitrag ist ein Bonus-Beitrag zu meiner Reihe: Dekolonialisierung der Phantastik. Wenn ihr mehr über die Reihe erfahren wollt, werft einen Blick in den Einführungsbeitrag.

Wenn wenige die Geschichte ändern

Im Englischen gibt es den Begriff „history maker“, der wahrscheinlich beim einen oder anderen eher Yuri on ICE Assoziationen weckt. Eine gute Übersetzung gibt es nicht. Doch effektiv ist ein „History Maker“ jemand, der praktisch eigenhändig den Lauf der Geschichte ändert. Gemeint sind damit die großen Namen, die vielleicht, vielleicht auch nicht, aus dem Geschichtsunterricht hängen geblieben sind. Sei es Julius Caesar, sei es Abraham Lincoln, sei es Alexander der Große oder Isaac Newton, sei es Karl Marx, sei es Winston Churchill, seien es Adolf Hitler oder Josef Stalin, sei es vielleicht auch eine Jeanne D’Arc oder Königin Elizabeth.

Halt große, historische Persönlichkeiten, die einen massiven Einfluss auf die Geschichte hatten – so lernen wir jedenfalls Geschichte häufig. In den meisten Schulen und Schulbüchern ist Geschichte bis heute sehr auf Persönlichkeiten bezogen, auf deren Leben und Tod, ihr Wirken und welchen Einfluss sie auf die Geschichte gehabt haben. Dies ist jedoch kein neues Phänomen, sondern war schon immer ein Blickwinkel, über den Geschichte betrachtet wurde.

Die Gründe sind vielfältig und ein Thema, was wir hier noch betrachten werden, doch führte diese Neigung, Geschichte zu Betrachten, zu einer Theorie: Die Theorie der großen Männer.

Die großen Männer

„Great Man Theory“ begann mit einem schottischen Historiker namens Thomas Carlyle, der 1841 schrieb:

The history of the world is but the biography of great men.

Thomas Carlyle

Zu Deutsch also: „Die Geschichte der Welt ist nichts, als die Biographie großer Männer“. Dies meinte er nicht kritisch, sondern absolut als eine ehrliche Betrachtung: Geschichte wäre nicht die Geschichte, die wir kennen, wären da nicht diese großen Männer (und manchmal Frauen und noch seltener nicht-binäre Menschen) gewesen, die sie beeinflusst haben.

Er baute diese Theorie weiter aus und baute sie letzten Endes auf zwei Annahmen auf: Erstens, dass manche Menschen von Geburt an auf irgendeine Art besonders seien. Zweitens, dass unter den richtigen Bedingungen diese besonderen Menschen ihr Potential erfüllen, Anführer werden und den Lauf der Geschichte erfüllen können – und nur diese besonderen Menschen.

Diese Annahmen trafen schon zur damaligen Zeit auf Kritik, doch auch diese Kritik änderte nichts daran, dass Geschichte meistens so betrachtet wurde und bis heute in vielen Schulen auch wird.

Gründe für die Perspektive

Es gibt letzten Endes zwei Gründe für diese Perspektive. Die erste davon ist offensichtlich: Dokumentation. Denn die meisten historischen Quellen wurden im Auftrag von irgendwelchen historischen Anführern geschrieben und bezogen sich auf diese. Das gilt besonders für Geschichte vor der Zeit moderner Medien. Schauen wir in die Antike und historische Konflikte dort, so sind diese meistens von irgendwelchen persönlichen Chronikenschreibern der etwaigen Herrscher*innen geschrieben – wenn nicht von den Herrscher*innen selbst. Entsprechend beziehen diese Quellen auch die Ereignisse, die sie überliefern, direkt auf das Leben und Wirken der Herrscher*innen, für die sie geschrieben wurden.

Natürlich ist es nicht so, als hätten wir nicht auch andere Quellen. Bspw. gibt es für Kriege oftmals diverse, diverse Briefe von Soldat*innen, die nach Hause geschrieben haben. Doch anders als die etwaigen Chroniken, sind hier die historischen Ereignisse nicht schön in einem Zusammenhang aufgeführt – weshalb diese alternativen Quellen lange Zeit weniger Beachtung fanden. Dies hat sich mittlerweile geändert, wodurch wir häufig auch sehen, dass die großen Männer bei weitem nicht alle Entscheidungen getroffen haben, die ihnen zugeschrieben werden, doch dieses weite Umdenken in der Geschichtswissenschaft ist ein noch anhaltender Prozess.

Zweitens ist da jedoch auch die Frage der Aufarbeitung von Geschichte für Schüler*innen oder die Allgemeinheit (bspw. in Form von Dokumentationen oder Filmen). Denn es ist wesentlich einfacher den menschlichen Konflikt zu vermitteln, wenn man diesen auf ein paar wenige Perspektiven reduziert, als wenn man über Gesellschaften und die Kräfte in ihr spricht, die dank der vielen Beteiligten oftmals komplex nachzuvollziehen sind. Und so ist es leichter über die französische Revolution zu sprechen, wenn wir uns auf Robespierre, Louis XVI. und die Guillotine konzentrieren, anstatt sich zu sehr in Politik und Gesetze und die eigentliche Volksbewegung zu vertiefen – etwas, das man in relativ wenigen Stunden ohnehin nie zureichend ausarbeiten kann.

Die Fehler

Dennoch ist die Betrachtungsweise von Geschichte, als „Biographie großer Männer“ in mehr als einer Hinsicht problematisch. Wenn wir uns eben die Ursachen betrachten, sollte das erste Problem offensichtlich sein: Quellen, die für jemanden geschrieben wurden oder von einer der „großen Personen“ selbst, sind nicht wirklich zuverlässig. Natürlich gibt es keine historischen Quellen ohne Bias, da alle Quellen von Menschen geschrieben wurden, aber gerade wenn wir uns persönliche Chroniken historischer Herrscher*innen ansehen: Natürlich beziehen diese alles auf den Herrscher. Dafür wurden sie geschrieben.

Das zweite Problem hängt mit dem zweiten Grund, warum die Betrachtung so oft dominiert, zusammen: Sie vereinfacht komplexe Sachverhalte. Aus gesellschaftlichen Bewegungen werden auf einmal die Entscheidungen einiger weniger Menschen. Das große Problem dabei ist, dass man dadurch schlimmstenfalls falsche Zusammenhänge lernt oder gar kein Verständnis für historische Sachverhalte entwickelt. Ein gutes Beispiel ist Hitler und das dritte Reich: Ja, Hitler hat sich selbst zum Diktator gemacht, aber die NSDAP wurde in die Regierung gewählt – und so zu tun, als hätten nicht weite Mengen der Bevölkerung Hitler zugejubelt.

Und dann ist da natürlich das Problem, dass die Konzentration auf ein paar wenige historische Figuren, alle anderen Personen unsichtbar macht.

Die Unsichtbaren

Prinzipiell wird natürlich jeder, bis auf einige wenige, bei einer solchen Betrachtung der Geschichte, unsichtbar gemacht. Seien es die einfachen Leute, die Revolutionen eigentlich begonnen haben, seien es die Soldaten, die eigentlich Kriege begonnen und Schlachten gewonnen haben, seien es die einfachen Menschen, die einfach ihren Tag gelebt, dabei aber Meinungen zur Politik hatten. Oder eben all die Laborassistenten, die an wichtigen wissenschaftlichen Erfolgen beteiligt waren. All jene verschwinden.

Allerdings gibt es natürlich einige Gruppen, die mehr, als andere, unsichtbar gemacht werden. Nun, ja, eigentlich ein Großteil der Bevölkerung. Denn prinzipiell sind die erwähnten Menschen praktisch immer weiß und in den allermeisten Fällen außerdem cis männlich. Denn es sind wirklich meistens „große Männer“ und keine „großen Menschen“. Zwar gibt es ein paar Frauen (diverse englische Königinnen und Joanne d’Arc), die ebenfalls in diese Kategorie gezählt werden – doch wurden Frauen für große Teile der Geschichte aus historischen Erzählungen und Chroniken herausgelassen – selbst wenn sie in der Realität eine Rolle gespielt haben. Sie tauchen maximal als die Ehefrauen großer Männer auf.

Und nicht-weiße Menschen? Nun, sie werden außerhalb von religiösen Kontexten von unserer Geschichtsschreibung und damit auch unserem Geschichtsunterricht gerne komplett vernachlässigt. Sicher gibt es einzelne, die auch für die europäische Geschichte relevant genug wurden (Genghis Khan sei hier genannt), als dass sie in der Geschichtserzählung auftauchen – doch üblicherweise sind die großen Männer eben auch weiß. Soweit gehend, dass auch Errungenschaften, die von nicht-weißen Menschen kamen, am Ende irgendeinem weißen Mann zugeordnet werden.

Eurozentrismus

Und wir sehen wieder das übliche Problem: Die Betrachtungsperspektive geht wieder von Europa aus. Wir reden in erster Linie über Europa und Europas Geschichte oder viel eher über eine Geschichte der dominanten europäischen Mächte (die, wie bereits erörtert, ja nicht ganz Europa ausmachen), bei der alle anderen Kulturen erst in dem Moment interessant werden, wenn sie Kontakt (d.h. meistens Konflikt) mit diesen haben.

„Das liegt daran, dass wir in Europa leben“ mag nun der eine sagen, „Aber auch nur, weil die ja nichts aufgeschrieben haben“ der andere. Aber gerade in diesem Kontext sorgt es für noch mehr Unsichtbarkeit – und ist auch auf andere Arten problematisch, die evtl. einmal einen eigenen Beitrag wert sind. Was aber auch zu sagen ist: Während es nun nicht so ist, als gäbe es nicht andere Kulturen, die einen ähnlich auf einzelne, wenige Männer bezogenen Ansatz von Geschichte haben, so sind nicht alle Kulturen so gewesen. Und gerade diverse Kulturen, die in unserer Geschichtserzählung dank Europzentrismus keine Aufmerksamkeit finden, gehören dazu. So gibt es mehrere indigene Kulturen, deren Geschichten immer Geschichten eines Volkes, eines Dorfes, einer Stadt waren – nicht die einiger weniger Individuen. Aber auch diese Art der Betrachtung wird eben hier unsichtbar gemacht.

Und das ist eben das zentrale Problem. Geschichte der großen Männer macht beinahe alle Menschen, die historisch existierten und die oftmals doch einen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hatten – manche sogar einen großen, manche einen eher kleinen. Und das sorgt für eine Verzerrung unserer Wahrnehmung von Geschichte.

Einfluss auf Geschichtenerzählung

Natürlich hat diese Art, wie wir Geschichte als Ablauf historischer Ereignisse erzählen, auch eine Folge, wie wir allgemein über Geschichten, seien sie fiktional oder real, denken. Wir sind daran gewöhnt Geschichten aus der Perspektive der Einzelnen zu erzählen und manchmal sorgt dies eben für seltsame Tropes in Geschichte. Man denke nur gerade in Fantasy und SciFi an die Armeen und Imperien, die prompt zerfallen, als ihr*e Anführer*in von der*m Held*in getötet wird. Dies hat sicher auch mit Einfachkeit der Erzählung zu tun – aber ein wenig auch damit, dass sich unsere Geschichte selten damit beschäftigt, was eigentlich aus der stehenden Armee wurde, wenn irgendein Diktator ermordet wurde. Wir sind daran gewöhnt so zu denken.

Und ja, dies hängt auch mit der allgemein „westlichen“ Art Geschichten zu erzählen zusammen. Dazu wird es in der Dekolonialisierung der Phantastik noch einen eigenen Eintrag geben. Doch gerade in Bezug auf Great Man History ist dies interessant zu beobachten. Und tatsächlich hängt vieles direkt oder indirekt damit zusammen.

Warum haben wir so wenig Heldinnen in Mittelalter-Fantasy? Weil wir historische Erzählungen aus dem Mittelalter nur aus männlicher Perspektive – eben der Perspektive „großer Männer“ kennen. Warum lösen „wahre Könige“ so viele Probleme? Weil es die Art ist, an die zu denken wir gewöhnt sind. Warum zerfallen Armeen in dem Moment, wo der dunkle Lord geschlagen ist? Weil wir über Kriege als Konflikte „großer Männer“ zu denken gelernt haben.

Ist es die einzige Erklärung für diese Tropes? Nein. Spielt es aber mit rein? Wenn ihr mich fragt: Ganz sicher.

Allgemein ist es eine Art Geschichte zu betrachten, die ich als schwer problematisch empfinde. Und ich hoffe, ich habe hier zu Genüge dargelegt, wieso. Geschichtswissenschaften wenden sich dankbarerweise mehr und mehr von diesem Modell ab – doch bis es im Klassenraum ankommt, wird es wahrscheinlich noch etwas dauern.


Das heutige Beitragsbild ist ein Portrait Washingtons, gemalt von William Willing.
Es steht unter Public Domain.