Dekolonialisierung der Phantastik – Bonus: Europa der Unterschiede
Ergänzend zum Thema Kolonialismus im Sinne des Kolonialzeitalters möchte ich noch über eine andere Sache sprechen: Die Vorstellung einer mehr oder minder homogenen europäischen Kultur. Denn diese hängt eng mit dem Kolonialismus zusammen – und mit modernem kolonialen Denken.
Disclaimer: Auch hier. Ich bin weiß und kein Historiker. Allerdings stamme ich väterlicherseits aus einer Familie, die teils slawisch, teils romani war – selbst wenn ich von der Kultur nicht so viel mitbekommen habe, da meine Großeltern früh starben und ich meine Romani-Großmutter nie richtig kennengelernt habe.
Anders, aber doch gleich?
Wie würdest du die englische Kultur beschreiben? Vielleicht über schwarzen Tee, über London, über das Königshaus, über „Posh Britishness“ oder britischen Humor. Irgendwie so. Wie französische Kultur? Wahrscheinlich fällt einem direkt die französische Küche ein – positiv oder negativ konnotiert – samt Baguettes und Croissants und vielleicht inklusive Froschschenkeln oder Schnecken. Da ist es wieder, die eine Sache, über die ich schon einmal gesprochen habe: Wir denken oft erst, an die Sachen, die unterscheiden.
Dennoch herrscht alles in allem oft die Vorstellung vor, solange man nicht länger im europäischen Ausland gewohnt hat, dass es da „nicht so anders“ ist, wie bei uns. Selbst Kanada oder die USA werden häufig als „nicht so anders“ empfunden. Sicher, andere Sprache, aber alles in allem, denken viele, ist es ja doch nicht so anders. Immerhin ist die „Moral“ ja nicht so anders und die Architektur auch nicht, ebensowenig wie die allgemeine Mode oder die konsumierten Medien. Entsprechend: „So anders“ kann es ja nicht sein, oder?
Und vor allem ist da natürlich noch die eine Sache, die dazu führt, dass irgendwie diese Vorstellung unterbewusst behaftet ist: Nämlich, dass die Leute, die man sich so als typische Französ*innen, typische Engländer*innen, typische Schwed*innen oder typische Amerikaner*innen vorstellt, oft eine andere Sache gemein haben. Sie sind weiß. Das gilt besonders, wenn man selbst weiß ist – und hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass uns diese Norm in den Medien vorgegaukelt wird. Unabhängig davon, dass es der Realität nicht entspricht. Die Bilder in den Köpfen sind oftmals so. Weil Medien stark sind. Und es auch schon immer waren.
Doch trotz etwaiger Medienbilder: Auch Europa war – oh wunder – nicht immer so, wie es heute ist. Nicht immer so, wie es zur Zeit des Kolonialismus war. Und auch in Europa gab es einmal lokale Religionen mit verschiedenen Gött*innen und Pantheons. Aber das ist nach und nach verschwunden. Jedenfalls vielerorts.
Wer ist „weiß“?
Wie schon erwähnt: Während durchaus schon im alten Rom Menschen mit hellerer Haut von der oft selbst blassen Oberschicht „gehobenere“ Eigenschaften zugesprochen wurden, als Menschen, die wir heute als schwarz beschreiben würden, kommt der eigentliche Rassismus, wie wir ihn kennen, zu großen Teilen aus Zeiten des Kolonialismus und wurde in dem Rahmen der „Rassenlehre“ eben als ein Vorwand genutzt, um Unterdrückung und Mord zu rechtfertigen. Und hier wurde wurde das erste Mal die „weiße Rasse“ wirklich definiert. Nur war damals noch nicht jeder „weiß“, der heute „weiß“ ist.
Eine indigene Aktivistin sagte es einmal sehr schön: „Fast jeder, der heute weiß ist, hatte einmal einen Vorfahren, der seine Kultur aufgeben musste, um weiß zu werden.“ Und genau das ist ein wichtiger Aspekt, der schon anfing, bevor das Konzept „Weißheit“ überhaupt existierte. Es fing mit den ersten großen Zivilisationen an und vor allem mit Rom, wo man sich ebenfalls bereits als viel zivilisierter sah, als diese Leute, die da in „Gallien“, „Germanien“ und „Britannica“ rumliefen. Zwar waren die Römer selten so kulturell unterdrückend, wie später britische oder spanische Kolonialherrschaften, und verboten lokale Religionen eher selten, doch wer im römischen Imperium Anerkennung haben wollte, musste sich der Kultur anpassen. Wer eine Chance in der Gesellschaft haben wollte, musste einen Teil seiner Kultur aufgeben.
Die Zeit der Römer liegt natürlich weit, weit in der Vergangenheit und kannte noch kein echtes Konzept des „Weißseins“. In nur zu naher Vergangenheit liegt jedoch die Zeit, in der Iren nicht als „weiß“ angesehen wurden. Dies hielt bis ins 20. Jahrhundert an. Etwas früher galten auch Schotten nicht als „weiß“. Oder Menschen aus Italien oder Griechenland – was in Anbetracht der engen Verbindung der modernen Kultur zu Rom durchaus nicht einer gewissen Ironie entbehrt – wurden nicht immer und nicht überall als „weiß“ anerkannt.
Kulturelle Vielfalt in Europa
Die Sache ist aber, dass es natürlich viele Kulturen in Europa gab und teilweise bis heute noch gibt. Sei es die Kelten, die Germanen, die Norden, die Slawen oder eben auch die antiken Kulturen Roms und Griechenlands, die zu den wenigen gehören, über die wir wirklich sprechen. Den wenigsten ist dabei auch nur wirklich bewusst, dass es sich bei diesen Gruppen oftmals auch mehr um Kulturkreise handelte, als um homogene Kulturen. Gerade bei den Kelten fällt dies leicht auf – die Unterstellung, dass Gälen mit Gallier dasselbe wären, löst teilweise selbst heute in Schottland, Irland oder Frankreich noch Empörung aus. Denn es waren nicht wirklich dieselben Kulturen, auch wenn sie einige Gemeinsamkeiten hatten. Aber da schlägt eben auch wieder das vereinfachte Denken zu: Es ist leichter die Kelten als eine vage Kultur mit Hinkelsteinen und Druiden sich vorzustellen, als eine Vielzahl verschiedener Stämme, die sich in kulturellen und religiösen Praktiken, sowie ihren Gött*innen unterschieden.
Und abseits dieser großen Gruppen gibt und gab es noch kleinere Kulturen, die in Europa existieren und existierten. Teilweise als Abspaltung von diesen großen (oder auch später der römisch christlichen Kultur), teilweise eben auch als Überbleibsel einer andere größeren Kultur, die irgendwie länger überlebt hat, als ihr Kulturkreis, teilweise auch als Gruppen, die von geographisch anderen Orten herkamen.

Königreiche, Missionierung und Christentum
Die Sache ist: Viele dieser Kulturen sind gestorben – und oftmals wissen wir nicht viel darüber. Manche sind als Kultur bereits im römischen Reich ausgestorben, manche aber erst später. Und bei vielen wissen wir nicht einmal, wie sie „verschwunden“ sind. Denn ja, sicher, nach der Sache mit Konstantin hat sich das Christentum schnell ausgebreitet, doch das erklärt kaum, warum manche Kulturen gänzlich verschwunden sind. Wahrscheinlich hat es mit dem zu tun, was wir heute als „Heidenverfolgung“ kennen – wobei „Heiden“ eben so viel wie „Nicht-Christen“ heißt.
Wie genau dies vonstatten ging ist schwer zu sagen aus heutiger Sicht. Sicher, über bestimmte Abschnitte wissen wir mehr, als über andere. Wir wissen, dass in 380 Kaiser Theodosius anfing die Anbetung heidnischer Gött*innen zu verbieten und dabei teilweise soweit ging, wie die Tempel einiger römischer Gött*innen zerstören zu lassen … doch betraf das nur die Kulturen, die im damaligen „Römischen Reich“ lagen. Wir wissen, dass von da an immer mal wieder Heiden verfolgt wurden und dass die Königreiche, die sich dann in Europa aufbauten, im Christentum begründet lagen, doch an vielen Stellen fehlen – zumindest nach meinen Recherchen – die Details.
Und natürlich wird auch die Missionierung hier eine Rolle gespielt haben. Immerhin sah man sich verpflichtet das „frohe Wort“ zu verbreiten und so wurde dies mal aggressiv, mal weniger aggressiv getan. Dabei wird allerdings neben der „Überzeugungsarbeit“ fraglos auch die Aussicht auf Handel mit reicheren König- oder Kaiserreichen ein wichtiger Aspekt gewesen sein.
England, Schottland und Irland
Eine Perspektive, die ich bezüglich des Kolonialismus mehr als einmal getroffen habe, ist die, der Schotten und speziell der Iren. Denn wenn man einige Leute dort fragt, werden sie einem erzählen, dass eigentlich Schottland und Irland die ersten Opfer des britischen Imperialismus gewesen seien. Selbst wenn die Briten dafür nicht um die halbe Welt gesegelt sind. Und nun … ich finde es weniger schön das gleichzusetzen, aber man kann dennoch nicht anzweifeln, dass die Unterdrückung der gälischen Kulturen ebenfalls brutal und schlimm war.
Denn ja, auch in Schottland und Irland wurden die lokalen Kulturen teilweise gewaltsam unterdrückt. Und dass immer und immer wieder. Man bedenke dahingehend, dass dort erst (zum Teil gewaltsam) christlich missioniert wurde. Dann aber hatten Schottland und Irland die falsche Version des Christentums und wurden diesbezüglich erneut unterdrückt. Gerade in Irland ergaben sich daraus Konflikte, die teilweise bis heute anhalten.
Und ja, es ist auch hier noch einmal wichtig zu unterstreichen: Diese Völker wurden bis ins 20. Jahrhundert nicht als „weiß“ angesehen.
Übrigens habe ich bei meiner Recherche für diese Reihe bereits ein paar Artikel von Iren gefunden, die sich an der „Inspiration“ einiger Fantasy-Welten aus einer missverstandenen oder nur oberflächlich verstandenen gälischen Mythologie stören.
Die indigenen Völker Europas
Von dem vermeintlichen Ende der größeren Kulturstämme und die Eingliederung ihrer Mitglieder in die christliche Mehrheitskultur einmal abgesehen, gibt es allerdings bis heute einige indigenen Völker in Europa. Also Völker, die eine getrennte Kultur haben, die teilweise von ihrem etwaigen Land vertrieben wurden und oftmals nicht wirklich als Teil des Landes gesehen werden, in dem sie leben – und die die wenigsten zu kennen scheinen.
Die größte Gruppe unter diesen sind die finno-ugrischen Völker, die im Raum zwischen den skandinavischen Ländern, Finnland, Estland, Lettland, Lappland, aber auch in Teilen Russlands leben. Zu diesen gehören beispielsweise die Sámi, von denen die meisten in Schweden und Norwegen leben – nicht zuletzt weil sie in Finnland unterdrückt werden. Etwas, was kaum bekannt ist, genau so, wie die Existenz dieser Kultur kaum bekannt scheint. (Die Northuldra in Frozen 2 sind übrigens an die Sámi angelehnt.)
Doch natürlich gibt es auch noch ein paar andere Kulturgruppen, in anderen Bereichen Europas. Nur, dass wir darüber eben sehr wenig lernen und bei den wenigsten Menschen ein Bewusstsein dafür existiert.

Von Sinti und Roma
Und dann sind da natürlich noch die Gruppen, die ein wenig der Elefant im Raum sind, da von ihnen die meisten gehört haben – und sei es im Geschichtsunterricht: Die Sinti und Roma – oftmals nur abfällig mit dem Z-Slur bezeichnet, den ich hier nicht ausschreiben werde. Diese sind beide Teile einer normadischen Kultur, die aus dem heutigen Pakistan stammt und sich von dort aus über Teile Asiens und Europas verbreitet hat. Sie leben seit dem späten Mittelalter in Europa und haben in ihrer Kultur sowohl Aspekte aus der frühen Hindu-Kultur, als auch Aspekte von Christentum und Islam integriert. Ebenso gelten sie als eine der am weitläufigsten diskriminierten Gruppen in ganz Europa, da sie nicht selten auch weiterhin auf staatlicher und gesetzlicher Ebene diskriminiert werden. So werden beispielsweise Camps abgerissen und sowohl Sinti, als auch Roma teilweise gefangen genommen, um sie der Länder zu verweisen. Als Gründe dafür werden oft eine hohe Straffälligkeit oder die Tatsache, dass die Camps nicht angemeldet waren, genannt.
Roma und Sinti – beide Gruppen sind miteinander verwandt und erneut Teile eines noch weiterreichenden Kulturkreises – wurden im Mittelalter versklavt oder auch als Sündenbock hingerichtet. Sie waren – und daher sind die Namen wohl am ehesten geläufig – auch neben den Juden (die natürlich ebenfalls eine Gruppe sind, die zu Europa gehört) eine der größten Gruppen, die im Rahmen des Holocaust gefoltert und hingerichtet wurden.
Obwohl ein nicht unerheblicher Teil der Roma heute in Europa lebt, werden sie oftmals nicht als „Teil von Europa“ gesehen, sondern als etwas ebenso „Exotisches“, wie Kulturen aus Südostasien. Entsprechend gehen auch mit dieser Gruppe eine Menge weit verbreiteter Stereotype einher, die in Medien (gerade in Fantasy) immer wieder repliziert werden.
Vergessen, aber nicht tot
Eine Tatsache, die vielen Leuten ebenfalls nicht bewusst ist, bleibt auch, dass viele alte Kulturen, die manche nur als ein Teil der Vergangenheit ansehen, bei weitem nicht tot sind. Das vielleicht bekannteste Beispiel sind die Norden. Denn zumindest religiös gesehen ist die nordische Kultur nie „gestorben“. Die nordischen Gött*innen sind weiterhin für diverse Menschen in Skandinavischen Ländern irgendwie Teil des Alltags. Inwieweit an sie als „Gött*innen“ geglaubt wird, unterscheidet sich von Person zu Person (so wie letzten Endes bei vielen eingetragenen Christ*innen auch).
Und ähnlich sieht es auch mit anderen Kulturen Europas aus. Manche sind nie wirklich gestorben. Auch die griechischen/römischen Gött*innen wurden immer irgendwo von irgendwem angebetet. Damit war anfangs auch Rick Riordan einmal aneinander geraten, da Anhänger*innen dieser alten Religionen teilweise seine Darstellungen der Gött*innen nicht besonders gut fanden.
Und natürlich gibt es davon abgesehen auch viele Menschen, die sich auf die eine oder andere Art wieder den alten Kulturen zuwenden. „Neo-Paganismus“, als „Neuheidentum“ ist ein Begriff, der in dem Kontext öfter herumgeworfen wird, auch wenn ich ihn nicht schön finde, da er wie auch „Heidentum“ zuvor unterschiedliche Dinge zusammenwirft. Doch ja, diverse keltische Religionen werden wieder ausgelebt und auch die slawische Religion und Kultur ist nie gänzlich verschwunden. Es mag sein, dass diese Religionen für viele Menschen vergessen sind, aber wirklich „gestorben“ sind sie nicht.
Übrigens nimmt auch die Anzahl von Menschen, die sich diesen Kulturen wieder zuwenden in den letzten Jahren deutlich zu.
Was ist „europäische Kultur“?
Eins meiner Bücher über druidische Praktiken fängt mit einem Vorwort des schreibenden Druiden an. Wir hätten, so meint er, in Europa unsere Kultur lange verloren und merken erst jetzt schmerzlich, dass es so ist. Dies führt, so sagt er weiter, dazu, dass für einige eine gewisse Sehnsucht nach etwas Spirituellem da ist – speziell bei der zunehmend großen Gruppe, die das Christentum ablehnt. In dem Rahmen würde nicht selten versucht, ferne Religionen aufzunehmen, obwohl zu diesen ein kultureller Bezug fehlt und dabei nicht zuletzt, die Suche nach einer eigenen Religion zu kultureller Aneignung wird. Dabei beklagt er, dass es so viele Religionen und Kulturen gibt, die traditionell zu Europa gehören und die beinahe komplett durch vereintes Vorgehen von erst Römern, dann Christen ausgelöscht worden sind, aber dabei durch die kulturelle Nähe weit eher fähig sind, uns diese Spiritualität zu geben.
Und manchmal denke ich mir, er liegt nicht gänzlich falsch. Im Rahmen der Dekolonialisierungsreihe wird (leider erst später im Jahr) noch ein Beitrag zum Thema kulturelle Aneignung kommen – bis dahin sei es einfach gefasst: Kulturelle Aneignung ist falsch. Dabei verstehe ich (jemand, der misshandelt wurde, weil sier nicht in ein christliches Weltbild passte) absolut, dass man sich in einem vom Christentum definierten Weltbild nicht wohl fühlt. Denn ich tue es nicht – egal, wie viele verständnisvolle Christen es gibt – schon gar nicht unter eine katholischen Kirche, die so viel, an das ich glaube und bin, ablehnt. Doch eben das führt oft zu der Frage: „Was ist meine Kultur?“ Denn sehen wir es, wie es ist: Das aktuelle Europa wurde kulturell nicht nur von Humanismus, sondern eben auch Christentum und – ja – auch dem Kolonialismus geprägt.
Für manche ist es leicht all das abzulehnen und zu sagen, sie machen für sich eine neue Kultur, sei diese nun in dem Glauben an Gleichheit begründet oder in dem scharfzüngigen Zynismus gewisser atheistischer Fraktionen. Ebenso gibt es aber auch diejenigen, die das Gefühl einer spirituellen Verbindung brauchen. Für diejenigen sei hiermit die Erinnerung gegeben: Es gehören mehr Kulturen, mehr Religionen nach Europa, als Christentum, Rom, Griechenland und „Wikinger“. Und gerade in Bezug auf die Verbreitung einer auf ein mehr oder minder „homogenes“ Europa aufbauenden Weltsicht ist es vielleicht ganz gut sich in Erinnerung zu rufen, dass Europa ein diverser Ort ist und schon immer war.
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