[Writing] About Us: Über Anorexie & Psychiatrieaufenthalte schreiben: meine Erfahrungen und ein paar Tipps

Hallo meine Lieben!
Heute habe ich wieder einen anonymen Gastbeitrag zu
[Writing] About Us für euch. Thema heute, wie die Überschrift schon verrät: Anorexie und Psychiatrieaufenthalte.

Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich es lange vermieden, Medien über Menschen mit Essstörungen zu konsumieren, also kann ich wenig darüber sagen, wie gut ich mich repräsentiert fühle. Aber vielleicht helfen ja meine Erfahrungen dem/der/* eine*n oder andere*n, glaubwürdige Charaktere mit Anorexie/ Psychiatrieszenen zu schreiben.

CN: Was man in so einem Text erwarten würde und noch ein bisschen was dazu: Anorexie, andere Essstörungen, Kalorienzählen, ein Suizidversuch (nicht meiner), Psychiatrie, verzerrte Körperwahrnehmung, Fatphobia, … Eventuell habe ich ein paar Sachen nicht als potenzielle Trigger erkannt. Falls dies der Fall ist: Entschuldigung.

Auch eine kleine Warnung an die Leute, für die das keine Triggerthemen sind: Dieser Artikel macht ungefähr so viel gute Laune, wie man es bei dem Thema erwarten würde.

Er ist in 4 „Kapitel“ eingeteilt:

Teil 1: Anorexie bekommen
Teil 2: Psychiatrie
Teil 3: 2 Jahre Normalgewicht – alles überwunden, oder? (Haha, als ob)
Teil 4: Ein paar Gedanken zum Schluss

Teil 1: Anorexie bekommen

Ich war gewissermaßen das Klischee einer Anorexiekranken: Weiße(1) Teenagerin aus finanziell stabiler, gebildeter Familie, gute Noten, kreativ, perfektionistisch, eventuell mit leicht depressiven Anwandlungen (ich bin vor einer Weile über ein paar Sachen gestolpert, die ich als junge Jugendliche geschrieben habe, und meine Güte … Tipp an Jugendliche, die das hier vielleicht lesen: Euer älteres ich könnte eine CN zu schätzen wissen. Ich hatte irgendwie geglaubt, ich wäre eine stabile, ausgeglichene junge Jugendliche gewesen. Aber ich vermute, wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich keine Essstörung entwickelt und würde jetzt nicht in einem aufgekratzten Tonfall, der verrät, dass ich noch nicht so richtig über das Ganze hinweg bin, diesen Artikel schreiben).

Was ich rückblickend absolut überraschend und ein bisschen faszinierend finde, ist, wie sich die Essstörung anschleichen konnte. Ich habe mit 16 weniger und weniger gegessen, hatte weniger und weniger Hunger und habe zunehmend auf Kalorienzahlen geachtet. Nach und nach begann ich, Einladungen von Mitschülern auszuschlagen, obwohl ich mich einsam fühlte (ein paar Monate zuvor waren meine einzige wirklich enge Freundin und ich endgültig auseinandergedriftet), weil ich dort ja unter Druck geraten könnte, etwas zu essen. Dass ich Gewicht verlor, fiel mir auch kaum auf. Ich ertappte mich dabei, in Läden überrascht zu sein, wenn XS-Kleidung locker saß („Haben sie jetzt die Größen daran angepasst, dass Leute im Durchschnitt etwas dicker geworden sind?“) oder zu glauben, dass meine Falten werfende Hose ausgeleiert sei. Der Gedanke, dass ich an einer Essstörung leiden könnte, kam mir so lange absurd vor, bis mich besorgte Menschen aus allen Richtungen darauf aufmerksam machten und ich wirklich heftiges Untergewicht hatte. Merke: Es ist möglich, das Offensichtliche bemerkenswert lange zu übersehen.

Hier möchte ich das erste Klischee erwähnen, das mich ein wenig stört. Ich weiß nicht, wie beherrschend es ist, aber die Idee, dass Essstörungen vor allem junge Möchtegernmodels betreffen, die sich sehr über ihr Äußeres definieren und ein wenig oberflächlich und leicht zu beeinflussen sind, hat es mir noch schwerer gemacht, mir einzugestehen, dass ich betroffen sein könnte. Entsprechend wichtig finde ich mediale Darstellungen von Anorexie, die so in etwa folgende Botschaft vermitteln: „Es kann jede*n(2) treffen, und DAMIT BIST DU GEMEINT!“

Jedenfalls schob ich in Gedanken das für mich „normale“ Gewicht immer weiter nach unten. Ich will keine Zahlen nennen, weil ich befürchte, dass sich eventuell andere Anorexiekranke damit vergleichen (ich dachte, als ich in die Klinik kam: „Noch ein paar Kilo von lebensbedrohlichem Untergewicht entfernt … Nicht mal das kannst du richtig!“ – tja, ich mache eben aggressiv Kompromisse). Ich geriet in eine Schleife aus „XX Kilo ist völlig okay. Ich will kein weiteres Gewicht verlieren, aber Zunehmen wäre unerträglich.“ Das Problem war: XX ging immer weiter herunter, und irgendwann langweilte ich mich in der Psychiatrie, aber natürlich wäre mir der Gedanke, dass ich dort landen würde, lange absurd vorgekommen.

Es ist übrigens überraschend komfortabel, Anorexie zu habe, ohne es zu bemerken – in meinem Fall hielt es meine Gefühle in sicherer Distanz und gab mir ein Gefühl der Stabilität. Ich mochte es, wie sich mein Körper veränderte, schmal und hart wurde (bzw. nahm ich es nicht als Veränderung war, registrierte es nur manchmal befriedigt). Mir fiel kaum auf, dass ich mehr und mehr fror, und als ich an dem Punkt angelangt war, an dem ich nicht mehr auf dem Boden liegen oder auf manchen Stühlen sitzen konnte, weil das meinem knochigen Körper wehtat, hatte ich das Gefühl, nicht mehr zurückzukönnen. Aber wenn die Anorexie nicht so gefährlich für meinen Körper gewesen wäre (recherchiert mal die Sterberate und die Langzeitfolgen – hässliche Sache), wäre es eigentlich bequemer gewesen, sich ihr nicht zu stellen.

Denn ab dem Zeitpunkt, an dem mir langsam bewusst wurde, was los war, hatte ich das Gefühl, mich in 3 Teile aufzuspalten. Da war der Teil von mir, der mich um jeden Preis davon abhalten wollte, zu essen und nur Verachtung für den Teil übrighatte, der zaghaft darum bat, gesund sein zu dürfen. Ein dritter Teil lehnte sich zurück, beobachtete das Ganze mit morbider Faszination und applaudierte gelegentlich sarkastisch.

Anorexie ist nicht nur ungesundes Abnehmen, sondern auch die Erfahrung, dass unglaublich viel mentale Kapazität von etwas eingenommen wird, dass eine*n eigentlich nicht besonders interessiert. Meine „Logik“ war anfangs immerhin: Hey, wenn ich etwas, dass mir gar nicht wichtig ist – eine gute Figur – erreichen kann, was kann ich dann erst schaffen, wenn mir ein Ziel wirklich am Herzen liegt. Darüber hinaus gab mir das Gefühl, mich selbst von einem so fundamentalen Bedürfnis wie Hunger befreien zu können, ein bisschen Zuversicht für die Zukunft. Schließlich können keine Bedürfnisse unerfüllt bleiben, wenn du keine hast. Zugleich habe ich mich geschämt und steckte in einem Zwiespalt: Entweder betrachtete ich die Anorexie als etwas, das mir passiert ist – woraus sich aber die Implikation ergab, dass ich wenig dagegen machen konnte – oder aber als etwas, worüber ich Kontrolle hatte. Das wiederum würde aber bedeuten, dass ich freiwillig mein Leben an einem eigentlich sehr oberflächlichen Ziel ausrichtete und alle in meinem Umfeld unglücklich machte, und das hätte mein Selbstwertgefühl in den negativen Bereich schnellen lassen (es ist sowieso schon und leider immer noch an vielen Tagen näher an der Null-Linie, als mir lieb ist). Ich fand dann die praktische Lösung, dass ich mir sagte, dass Anorexie bekommen etwas ist, das mit mir geschah, aber sie bekämpfen etwas, das ich aktiv tun konnte.

Jedenfalls habe ich schließlich begonnen, daran zu arbeiten, und es war verdammt schwer. Ich habe nicht wenig gegessen, weil es mir Spaß machte, sondern weil es für mich irgendwann nicht mehr vorstellbar war, mehr als eine bestimmte, knapp bemessene Menge eines bestimmten Nahrungsmittel zu essen. Menschen mit Anorexie verhalten sich nicht selbstzerstörerisch, werden wütend oder weinen oder sind beim Essen wählerisch, weil sie sich wichtigmachen wollen, oder es ihnen an Rücksicht und Selbstbeherrschung fehlt. Ich würde vermuten, dass viele dabei noch eine Menge Emotionen zurückhalten. Wenn ihr über uns schreibt, dann bitte mit Mitgefühl.

Jetzt geht es mir vor allem körperlich, aber auch psychisch sehr viel besser, aber irgendwie hat das Wissen darum, dass ich mal versucht habe, mich selbst durch Nahrungsentzug zu verletzen, das Vertrauen zwischen mir und mir ziemlich zerstört. Die Dinge, die ich im Laufe der Jahre zu mir selbst gesagt habe, haben das Verhältnis nicht gerade verbessert. Noch heute denke ich manchmal, dass ich, wenn man mich einer exakten Kopie meiner selbst gegenüberstellen würde, auf dem Absatz herumwirbeln und weglaufen würde.

Oh, und noch ein Gegenteil-von-Fun-Fact: Anorexie verletzt nicht nur die Betroffenen, sondern auch alle, die das Pech haben, in ihrem näheren Umfeld zu sein. Meine Eltern mussten hilflos zusehen, wie ich mehr und mehr Gewicht verlor und lange alle Versuche, mich darauf anzusprechen, abblockte. Sie mussten einen Urlaub absagen, weil ich in die Klinik musste, und kamen dann in die Situation, mit einer Tochter umzugehen, für sich die jeder Versuch, sie zum Essen zu überreden, ungefähr wie das Äquivalent von „Los, zerschneide dir das Gesicht. Es wird dich entstellen, aber es würde uns alle soooo beruhigen“ anhörte, und die ständig in Tränen ausbrach. Das Ganze ging natürlich auf Kosten ihrer Zeit und Energie und der Aufmerksamkeit, die sie meinem Bruder widmen konnten. Spaß für die ganze Familie! (Bitte beschönigt das in euren Darstellungen nicht – es würde den Leidensdruck der indirekt Betroffenen herunterspielen).

ABER: Die obsessiven, ständig ums Essen kreisenden Gedanken, der Versuch, alles so zu gestalten, dass ich die maximale Kontrolle über mein Essen hatte, und gleichzeitig die Angst, was passieren würde, wenn ich meine Essstörung nicht in den Griff bekam, haben zwar viel Raum eingenommen, aber eben nicht allen.

Wenn ich gerade nicht über Essen nachdachte, war ich das gleiche kluge, unsichere, manchmal lustige, an Literatur, Mythologie und Geschichte interessierte Mädchen, dass mehrere selbstgeschriebene Romane in der Schublade hatte und gerne weitere hinzufügen wollte. Man konnte meinen Versprechen, dass ich schon mehr essen würde, nicht trauen, aber das war schon alles. Ich war immer noch ich (okay, permanenter Hunger stellt einige lustige Sachen mit dem Gehirn an, aber lasst uns mal davon absehen) und hatte noch andere Probleme als meine Anorexie.

Das wäre mir auch in Literatur/ anderen Medien wichtig (und auch einfach ein Kennzeichen von gutem Schreiben – keine Figur hat exakt ein Problem, welches sie vollkommen definiert): dass Anorexiekranke eben als Menschen mit Interessen, Eigenschaften und Problemen dargestellt werden, die von ihrer Krankheit lediglich ein wenig modifiziert werden. (Z.B. kann eine eigentlich zurückhaltende, kompromissbereite Person plötzlich konfrontativ auftreten, um einer Mahlzeit zu entgehen und wütend auf diejenigen werden, die sie mit ihren – verständlichen – Sorgen bedrängen). Manchmal glaube ich, dass die beste Art, Anorexie in Fiktion abzubilden, wäre, diese eben nicht zum zentralen Thema zu machen, sondern vielmehr zu etwas, was den eigentlichen Plot verkompliziert. Ein gutes Beispiel – allerdings mit einer anderen psychischen Krankheit – ist meiner Meinung nach die Urban-Fantasy-Trilogie „The Arcadia Project“ von Mishell Baker. Hier hat die Hauptfigur eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, die sie – genau wie der Fakt, dass sie seit einem Suizidversuch körperbehindert ist – im Alltag beeinträchtigt. Das wird ungeschönt geschildert. Aber sie ist trotzdem noch in vielen Bereichen sehr kompetent und wendet mutig und einfallsreich Schaden von einer Menge Leute ab.

Für mich persönlich wurde es nach einer Weile zum Problem, dass ich mich stark mit meiner Essstörung und dem Kampf dagegen zu identifizieren begann – es wurde nicht weniger schmerzhaft und anstrengend, aber ich gewöhnte mich daran. Dadurch stellte sich mir die Frage: Wenn dieser permanente Kampf gegen mich selbst verschwindet, wer bin ich dann noch? In dieser Situation brauchte ich Erinnerungen daran, wer ich ohne die Krankheit war. Genau das hat mich auch an einer Autobiographie einer jungen Frau mit Anorexie gestört, die ich gelesen habe, als ich selbst noch sehr stark betroffen war – es war nicht länger ihre Geschichte, es war die Geschichte ihrer Krankheit. Nichts gegen das Buch. Es war explizit ein Buch über Anorexie und hat bestimmt ihre Erfahrung authentisch abgebildet, und es ist der Zweck einer Autobiographie, genau das aufrichtig zu tun, aber es war in dieser Situation ziemlich entmutigende Lektüre für mich.

(1) Ich weiß leider nicht mehr, wo es war, aber ich habe vor einer Weile eine kurze Dokumentation darüber gesehen, dass von Essstörungen betroffene Frauen und Mädchen of Colour es oft schwerer haben, entsprechende Diagnosen und die damit verbundenen Therapieangebote zu erhalten, was vielleicht auch von diesem kulturell verwurzelten Bild von Anorexie als Krankheit weißer Mittelschichtmädchen zu tun hat.

(2) Auch gerade junge Männer sind zunehmend von Essstörungen betroffen. An dieser Stelle ein herzlicher ausgestreckter Mittelfinger an die Frauen, die unter einem Artikel zu dem Thema Kommentare à la „Haha, ist doch nur gerecht, dass es Männern jetzt auch so geht!“ abgelassen haben. Ihr habt keine Ahnung, wovon ihr redet und solltet euch erst dann wieder in die Nähe eines Computers mit Internetanschluss gelassen werden, wenn ihr euch etwas Empathie zugelegt habt! Und nein, es ist nicht in Ordnung, wenn die Zielscheibe Männer sind!

Schlussfolgerung aus (1) & (2): Ich wüsste es zu schätzen, wenn Medien zunehmend reflektierten, dass eben auch Leute außerhalb der traditionell mit Anorexie assoziierten Bevölkerungsgruppe davon betroffen sein können.

Teil 2: Psychiatrie

Ironischerweise war mein Gewicht zu dem Zeitpunkt, zu dem ich mich endlich bereit glaubte, mein Verhalten tatsächlich zu ändern, so weit unten, dass ich nicht länger eine „normale“ Therapie machen durfte. Also landete ich für ein paar Wochen in der geschlossenen Psychiatrie.

Das klingt dramatisch, aber ich habe die Zeit in einer Mischung aus Langeweile, Beleidigtsein (mir ist klar, dass es Gründe für die Regeln gibt, aber der Fakt, dass wir z.B. nur in bestimmten Zeiten technische Geräte benutzen durften oder dass ich nach Mahlzeiten für eine halbe Stunde nicht die Toilettentür komplett schließen durfte, obwohl ich mich noch nie übergeben hatte, hat mich trotzdem gestört. Ich habe mich machtlos gefühlt, und bin einmal, als ich mich willkürlich behandelt fühlte, auch wütend geworden.) und … naja, noch mehr Langeweile verbracht. Und mich über das Essen geärgert. Ich meine, da überwinde ich mich schon, und dann … DAFÜR???

Die geschlossene Station der Jugendpsychiatrie ist ein ziemlich guter Querschnitt durch die Gesellschaft. Ich habe die verschiedensten jungen Menschen getroffen, aber leider nur mit wenigen gute gemeinsame Gesprächsthemen gefunden. Ich habe keine bedrohlichen Erfahrungen gemacht – wenn man mit einem supergeregelten Tagesablauf und Überwachung klarkommt und wie ich die Sorte Person ist, die eigentlich immer gefallen und keine Probleme machen möchte, ist es ziemlich entspannt. Die anderen Patient*innen hatten natürlich alle ihre Probleme, aber mir gegenüber ist nie jemand aggressiv geworden. Ich hatte viel Zeit zum Lesen.

Allerdings empfinde ich so etwas wie dumpfe Wut, wenn ich daran zurückdenke, was mir einige meiner Mitpatient*innen erzählt haben. Anders als viele von ihnen konnte ich in eine stabile, liebevolle Familie zurückkehren, wusste bereits, dass ich bei einer sympathischen, kompetenten Therapeutin landen und dann damit weitermachen würde, meine ziemlich schönen Zukunftspläne zu verwirklichen. Die Psychiatrie war eine Zwischenstation – ein Ort, auf dem ich aufbewahrt und am Leben gehalten wurde, bis es weitergehen konnte. Ich denke ein bisschen daran wie an gestohlene Zeit (wobei ich nicht sicher bin, ob ich unter anderen Umständen genauso viel und genauso schnell zugenommen hätte). Aber andere Patient*innen waren weitaus länger da, teils einfach, weil nicht klar war, wohin sie zurückkehren sollten. Und für die war meiner Meinung nach keine adäquate Hilfe da. Vielleicht ist mir etwas entgangen, aber als eine Patientin versuchte, sich das Leben zu nehmen, gingen kurz danach alle zur Tagesordnung über. Eine andere Patientin bemerkte: „Du siehst schockiert aus“, als wäre sie überrascht, dass ich es nicht routinemäßig hinnahm, dass jemand im Nebenraum einen Suizidversuch startet.

Also, Krisenstation Jugendpsychiatrie: Geregelter, überwachter Tagesablauf, alles hell, sauber und distanziert freundlich, alle geben sich große Mühe, selbst Gegenstände von eine*m fernzuhalten, bei denen mir völlig schleierhaft ist, wie man sich/andere damit verletzen könnte, und am Ende gibt es eine Mappe mit Beobachtungen über das eigene Verhalten. (Ich hätte sie gerne mit ein paar Rotstift-Korrekturen zurückgeschickt. Aber der Teil, dass ich Blickkontakt meide, war hilfreich – ich arbeite seitdem aktiv daran, das zu verbessern). Ich habe sie nicht als einen Ort erlebt, an dem man Hilfe bei der Bewältigung seiner Probleme findet (eher im Gegenteil, die Abwesenheit von Ablenkungen zwingt dazu, sich mit ihnen zu beschäftigen), aber immerhin bleibt man dadurch lange genug am Leben, dass man sich diesen Problemen später stellen kann, und wahrscheinlich hat es mir auch geholfen, dass mir die Verantwortung für mein Essen aus den Händen genommen war.

Allerdings störte mich der Eindruck, dass mich einige Mitarbeiter*innen dort mehr als Diagnose statt als Mensch sahen. Und die eine leitende Ärztin hätte wenigstens so tun können, als glaubte sie daran, dass ich meine Krankheit besiegen könnte, statt mich [sinngemäß] mit einem: „Ich wette, ich sehe Sie hier bald wieder“ zu verabschieden. Ich kann hier triumphierend verkünden, dass ich das gründlich widerlegt habe!

Wichtige Anmerkung: Meine Erfahrung ist keineswegs repräsentativ für Klinikaufenthalte. Gerade auf bestimmte psychische Krankheitsbilder spezialisierte Kliniken bieten oft echte Therapien an, und eine Krisenstation ist eigentlich auch nicht dafür gedacht, lange dort zu bleiben. Bitte lasst euch nicht von meiner unenthusiastischen Schilderung davon abhalten, euch Hilfe zu suchen, wenn ihr sie braucht.

Teil 3: 2 Jahre Normalgewicht – alles überwunden, oder? (Haha, als ob)

Wie sahen die Heilungsschritte aus? 1. Therapie 2. Genug essen. 3. Aufhören, essen akribisch abzuwiegen (Letzteres ist eine Angewohnheit, die ich mir in der Psychiatrie zugelegt habe – vorher habe ich einfach nur wenig, bestimmte Nahrungsmittel gar nicht und zu festen Zeiten gegessen). Gerade, um mit dem Abwiegen aufzuhören, habe ich Jahre gebraucht.

Eine Erfahrung, die ich ziemlich frustrierend fand, war übrigens folgende: Ich bin Autorin, ich erzähle gerne, und ich glaube, dass Worte Macht haben. Irgendwie dachte ich, dass ich, wenn ich in der Lage wäre, perfekt zu beschreiben, wie es mir ginge und vielleicht auch irgendeine tiefliegende Ursache zu identifizieren, nach einem dramatischen, tränenreichen Gespräch geheilt wäre. Dramatische, tränenreiche Gespräche hatte ich in Hülle und Fülle, aber letztlich haben sie wenig gebracht. Ich musste trotzdem mein Verhalten ändern, wieder und wieder eine Handlung ausführen (Essen, insbesondere Lebensmittel, deren Kaloriengehalt ich nicht kannte, zu mir nehmen), vor der ich mich ekelte und die in mir überwältigenden Abscheu gegen meinen eigenen Körper weckte. Aber was mich zuerst Überwindung gekostet hat, wurde irgendwann zur Gewohnheit. Derzeit esse ich eher zu viel, gerade wenn ich gestresst bin (was ein paar unangenehme, alte Gefühle reaktiviert, obwohl ich anscheinend zu diesen Glückspilzen gehöre, die sehr viel essen können und dabei nur wenig zunehmen).

Mittlerweile ist mein Klinikaufenthalt sechs Jahre her. Sechs Jahre, in denen ich einen wunderbaren Partner gefunden habe, der nicht müde wird, mir wieder und wieder zu versichern, dass ich nicht dick bin, mein Abitur und mein Bachelorstudium mit 1-er Durchschnitt beendet und zwei Bücher veröffentlicht habe. Mein Leben ist nahezu perfekt, aber irgendwo in meinem Hinterkopf ist immer eine diffuse Angst, die manchmal hervorbricht und sich irgendeinen konkreten Gegenstand sucht. Manchmal frage ich mich, ob das daran liegt, dass ich mich an der Zeit, in der meine Anorexie akut war, daran gewöhnt habe, sozusagen um mein Leben zu kämpfen, und mich nicht mehr wirklich an Normalität und Glücklichsein gewöhnen kann. Oder die Anorexie hat eine Menge nervigen psychischen Kram kanalisiert, der jetzt eben auf andere Weise an die Oberfläche drängt. Was ich damit sagen will: Heilung ist ein langwieriger Prozess, und auch wenn es besser wird – es hat sich absolut gelohnt, mir mein Leben zurückzuholen, und ich bin jetzt viel freier und glücklicher als früher – bleibt etwas zurück.

Interessanterweise bin ich jetzt sehr viel sensibler dafür, was Medien und Umwelt mir darüber einreden wollen, wie ein Frauenkörper aussehen sollte. Gerade in den ersten Jahren nach dem absoluten Tiefpunkt habe ich mich oft sonderbar durchlässig gefühlt – weil ich mir selbst nicht mehr wirklich traute, war ich empfänglicher für alles, was von außen kam. Derzeit vergleiche ich mich, ohne es zu wollen, mit anderen Frauen (leider auch photogeshoppten). Ich würde nie jemand anderen wegen ihres/seines/* Gewicht beurteilen (wenn ich dicke Menschen sehe, nehme ich an, dass sie entweder andere Prioritäten als ihr Äußeres haben, oder ihr Gewicht genetische oder medizinische Ursachen hat, und habe deswegen keineswegs eine geringere Meinung von ihnen – kleines Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, dass ich das eigens sagen muss). Nur mir selbst kann ich irgendwie nicht erlauben, auch nur ein normales Gewicht zu haben – ich bin derzeit im unteren Drittel des gesunden Gewichts für meine Größe, und für meinen Geschmack zu weit von der Grenze zum Untergewicht entfernt.

Ich fühle mich angesprochen, wenn irgendwelche Arschlöcher online über dicke Menschen lästern, weil ich weiß, dass mich nur gute Gene davor schütze, ebenfalls zur Zielscheibe zu werden, da ich derzeit ziemlich unkontrolliert esse.(3) Manchmal lähmt mich der Ekel vor meinem Körper oder schaue ich in den Spiegel und bin verwirrt, weil sich in meinem Kopf zwei völlig verschiedene Wertungen dessen, was ich sehe. (Ich hatte in den letzten Tagen mehrfach Momente, in denen ich Angst vor einem Auftritt und einer Veranstaltung hatte, auf die ich mich eigentlich sehr freue, weil ich damit rechnete, dass alle der fatalerweise durchschnittlich schlanken Frau mitleidig-verächtliche Blicke zuwerfen würden – selbst jetzt zweifle ich daran, dass ich mit extravaganter Kleidung Aufmerksamkeit auf meinen Körper lenken sollte).

Das einzig Positive, was ich mitgenommen habe, ist ein geschärftes Bewusstsein dafür, wie wenig Unterstützung Menschen mit psychischen Problemen manchmal erhalten. Und mir ist seitdem nur zu bewusst, wie verletzlich Leute hinter ihrer Fassade sein können, und das macht sich in der Art bemerkbar, wie ich mit ihnen interagiere. Aber das hätte ich auch auf anderem Weg lernen können.

Man sieht mir nicht mehr an, dass ich mal an Anorexie gelitten habe, und ich kann jetzt auch wieder flexibel und viel essen. Ich glaube, dass ich vor einem Rückfall sicher bin. Ich funktioniere in jeder Hinsicht gut und gehe erfolgreich meinen Weg. Aber einige Gedanken sind noch da, und sie machen mein Leben schwerer, als es ohne sie wäre.

Das ist auch etwas, dass ich mir in mehr medialen Darstellungen wünschen würde: Wie es weitergeht, wenn das Drama vorbei ist. Wie man weiterlebt, wenn sich das Gewicht normalisiert hat und es wahrscheinlich auch bleiben wird, aber der alte Selbstekel immer noch da ist.

Ein weiterer Tipp: Ich würde mir mehr Bücher und Filme wünschen, die Frauen, die eher durchschnittlich schlank oder auch etwas runder sind, ins Zentrum stellen und positiv darstellen, oder unseren Perfektionsanspruch an (weibliche) Körper in Frage stellen. Sie haben den Kollateralnutzen, dass ich mich ein bisschen besser fühle, und vielleicht bin ich nicht die Einzige.

(3) Gewissermaßen habe ich als dünne Frau mit Anorexie Glück gehabt. Wenn du irgendwann eine Wirbelsäule wie ein Stegosaurus hast, nehmen Leute dein Problem ernst, und mein Eindruck ist, dass Menschen mit Anorexie noch freundlicher wahrgenommen werden, als Menschen mit anderen Essstörungen – was sie machen, ist ja schließlich ein erwünschtes Verhalten (Abnehmen, oft gepaart mit Perfektionismus und einem Wunsch, sich anzupassen und zu gefallen). Sie sind nur eben ein bisschen übereifrig /s.

Normal- oder übergewichtige Menschen, denen man nicht ansieht, wie sehr sie unter ihren Essstörungen leiden haben es da deutlich schwerer. Damit meine ich hier nicht nur Bulimie und Binge Eating, man kann auch Anorexie haben, ohne sichtbar untergewichtig zu sein, und scheinbar gesundes Verhalten wie z.B. ausschließlich gesunde Ernährung und Sporttreiben, kann quälend und einschränkend sein, wenn es zum Zwang wird und jede Trainingspause, jede noch so kleine Menge eines etwas ungesunderen Nahrungsmittel beinahe unerträglichen Stress auslöst. Ich will mir auch gar nicht vorstellen, wie es ist, mit den permanenten Abwertungen von außen zu leben, mit denen dicke Menschen in unserer Gesellschaft konfrontiert sind. Wenn ich mich selbst für mein Äußeres fertig mache, würden mir wahrscheinlich die meisten Menschen widersprechen – ich glaube ihnen nicht, aber immerhin tun sie es. Andere haben dieses Glück nicht.

Aber nicht nur Ablehnung kann zum Problem werden. Ich habe, als ich aus dem schlimmsten Untergewicht raus, aber immer noch mehrere Kilo von einem gesunden Gewicht entfernt war, Komplimente für meine Figur bekommen, die ich alles andere als hilfreich fand.

Hier ist noch ein Tipp, nicht fürs Schreiben, sondern für den täglichen Umgang mit Menschen, die womöglich Essstörungen haben: Wenn ihr nicht einschätzen könnt, wie Kommentare über ihre Figur oder ihr Essverhalten bei einer Person ankommen, verkneift sie euch besser, egal ob sie positiv oder negativ sind.

Ein paar Gedanken zum Schluss

Ich fühle mich ein wenig komisch dabei, Tipps dafür zu geben, wie man so über Anorexie schreiben sollte, dass es Betroffene – in diesem Fall mich, und ich nehme nicht für mich in Anspruch, in irgendeiner Hinsicht repräsentativ zu sein – nicht verletzt. Literatur kann zwar therapeutisch und tröstend sein kann, aber muss es keineswegs.

Manchmal konfrontiert ein gutes Buch Menschen mit unangenehmen Wahrheiten, und es gibt immer mehr als eine davon. Meine Geschichte – ich als Opfer von und am Ende Siegerin über eine Gegnerin in meinem Kopf, die mir sehr viel Lebenszeit gestohlen hat, in der ich hätte glücklich sein können, und mich noch immer nicht 100% in Ruhe lässt, obwohl die Gefahr gebannt ist – ist ebenso wahr wie die Geschichte derjenigen, die mich von außen gesehen haben: Ein schwarzes Loch, in dem Aufmerksamkeit, Zuneigung, Hilfe und die Energie und Zeit anderer Leute verschwinden, ohne einen sichtbaren Effekt zu erzielen. Natürlich verletzt es mich, mich selbst aus dieser Perspektive zu sehen, aber ist sie deshalb weniger realistisch, weniger wichtig und legitim als meine eigene?

Erzählt eure Geschichte einfach ehrlich, ungeschönt und differenziert, und romantisiert Anorexie bitte nicht, okay? Ich war keine fragile, romantisch dahinschwindende Schönheit, die ihre Gesundheit opfert, um einem unerreichbaren Ideal zu entsprechen, sondern ein Bündel aus rundum ansteckendem Elend, wann immer Essen/Körper Thema wurden. Die Essstörung hat mich nicht interessant gemacht, sie hat versucht, alles Interessante, Individuelle in mir auszulöschen. (Ich war tatsächlich fast ein bisschen beleidigt, als ich in der Klinik mit anderen Anorexiekranken sprach und feststellte, wie ähnlich ihre krankheitsbedingten Gedanken den meinen waren).

Und ich wiederhole noch einmal: Lasst eure Figuren nicht hinter ihrer Diagnose verschwinden. Sie waren jemand, bevor die Anorexie sie erwischt hat, sind es währenddessen, und mit ein bisschen Glück werden sie irgendwann wieder eine – ältere, um eine hässliche Erfahrung reichere – Version der Person sein.

  • S. N.