Das Problem mit den männlichen Vorbildern

Da das Alpaka noch immer Klausuren schreibt, gibt es heute einen Gastbeitrag von F.B. Knauder (Autorenwebseite) zum Thema fiktionale Vorbilder für euch. Dabei erzählt er etwas darüber, warum er in einer Medienlandschaft voller Jungs sich dennoch nicht repräsentiert gefühlt hat und es kaum Figuren gab, zu denen er aufsehen konnte.

Warum ich nie ein fiktives Vorbild hatte

Ich war ein braves Kind. Ich hielt mich an Regeln, war immer vorsichtig und stellte eigentlich nie etwas an. Zeitgleich war ich auch ein fröhliches Kind. Ich war offen, redete viel – zu viel, nach manchen Stimmen – und schloss schnell neue Freundschaften. Außerdem kam ich auch immer sehr gut mit Mädchen klar. Besser oft, als mit den Jungs. Oh, und noch etwas: Ich war ein Junge.

Dieses Bild, dieses Verhalten, diese Art, ein Junge zu sein, sind nicht die Norm. Denke ich. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mit Sicherheit, wie sich Jungs in meinem Alter damals verhalten haben. Zumindest hatte ich keine vernünftige statistische Repräsentation von kindlichem Verhalten für meine Alterskohorte. (Und ja, die hätte mein 5-/8-/11-jähriges Ich auch ganz bestimmt gelesen. Don’t @ me.) Aber ich wusste zumindest zwei andere Dinge.

Erstens: Ich wusste, wie sich andere Jungs in meinem näheren Umfeld verhielten. Die waren sehr oft … anders als ich. Die waren eben nicht so brav. Die waren nicht immer so fröhlich. Die waren nicht so offen Mädchen gegenüber. Und die waren allem voran nicht so vorsichtig.

Jungs im Bildschirm

Zweitens: Ich wusste, wie sich Jungs in den Serien und Filmen verhielten, die ich gesehen habe. Sprich: den Produktionen der späten 90er- und frühen 00er-Jahre. Da war zum Beispiel Timmy Turner (Cosmo & Wanda – Wenn Elfen helfen). Ein ungestümer Junge, der nichts mit Mädchen anfangen konnte, sich nicht für die Schule interessierte, unvorsichtig und impulsiv handelte, und Regeln – im besten Fall – mit Füßen trat.

Ein anderes Beispiel: Ben Tennyson (Ben 10). Er war ein ungestümer Junge, der nichts mit Mädchen anfangen konnte, sich nicht für die Schule interessierte, unvorsichtig und impulsiv handelte, und Regeln – im besten Fall – mit Füßen trat.

Noch ein Beispiel gefällig? Wie wärs denn mit dem Kasperl aus dem Kinderfernsehen im ORF? Der war ein ungestümer Junge, der nichts mit … Ihr wisst mittlerweile, wo das hinläuft. Die meisten Jungs in Serien und Filmen passten in genau dieses Schema hinein.

Die Drillinge aus Ducktales? Check. Danny Fenton/Phantom? Check. Jake Long (American Dragon). Check. Ron Stoppable (Kim Possible)? Auch Check. Zugegeben, in dem Fall nur teilweise. Sogar einer der berühmtesten Waisen aus Film und Fernsehen passt zu großen Teilen in dieses Schema: Harry bloody Potter.

Wie Jungs halt so sind

Sie alle sind: Impulsiv, Lausbuben, Regelbrecher, haben wenig Interesse am Lernen haben große Probleme, mit Mädchen oder jungen Frauen zu sprechen, etc. Nicht immer das ganze Paket, aber doch sehr viel davon. Schaut euch ruhig noch ein wenig in eurer mentalen Mediathek, Abteilung: Kindheit, um. Ihr findet sicher noch mehr fiktive Jungs, in diese Gussform passen.

Während ihr das tut, lasst mich euch in Erinnerung rufen, was ich für ein Kind war: brav, offen, vorsichtig, wissbegierig, lieber unter Mädchen, als unter Jungs. Das passte nicht mit dem Bild zusammen, das ich aus Serien, Filmen und Büchern vermittelt bekam. Nicht im Geringsten.

Das Resultat – und das ist mir auch erst vor kurzem wirklich bewusstgeworden: Ich hatte nie ein wirkliches fiktives Vorbild. Wie mir das bewusstgeworden ist? Exzellente Frage, Stimme aus dem Off! Durch ein Gespräch mit meiner besseren Hälfte. Sie hatte – im Gegensatz zu mir – nämlich sehr wohl fiktive Vorbilder. Interessanterweise sehr oft Charaktere aus Serien und Filmen, die ich vorhin erwähnt habe.

Mädchen aus dem Bildschirm

An erster Linie stand – und steht – natürlich Hermione Granger. Aber sie hatte auch Kim Possible, Sam Manson oder Gwen Tennyson. Na gut, letztere nicht, aber das auch nur, weil sie die Serie nie gesehen hat. Ihr sei an dieser Stelle also verziehen.

Ich hatte aber nie so jemanden. Nach längerem Stöbern ist mir ein Charakter eingefallen, mit dem ich mich ansatzweise identifizieren konnte: Tino (Wochenendkids). Der ist aber auch kein Junge, zu dem ich aufgesehen habe. Das war eher so ein Charakter, in dem man viel zu viele schlechte Seiten von sich selbst wiederentdecken kann.

Kurze Anmerkung an dieser Stelle: Ich weiß natürlich, dass ich als weißer, christlicher, Mittelstands-hetero-cis-Mann aus Mitteleuropa nicht mal ansatzweise einen Grund habe, mich zu beschweren. Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es muss, nach Identifikation zu suchen, wenn man auch nur einem der oben genannten Punkte nicht entspricht. Anstrengend ist ziemlich sicher eine Untertreibung. Aber ich habe noch einen weiteren Grund, weshalb mich diese Darstellung von Männlichkeit in der Popkultur nervt: Sie ist toxisch. Bestenfalls.

Die toxische Seite der Männlichkeit

Natürlich könnte und müsste ich euch hier kurz auf einen Exkurs rund um den Begriff der toxischen Männlichkeit entführen. Das haben andere aber schon viel besser gemacht, als ich es könnte. Außerdem würde es auch den Rahmen dieses bescheidenen Gastbeitrags sprengen. Ich gehe also fürs Erste davon aus, dass ihr wisst, wovon ich schreibe. Zur Sicherheit hier trotzdem eine Kürzestdefinition:

Toxische Männlichkeit bezeichnet Aspekte von typisch männlichem Verhalten, die den Männern selbst, anderen Männern und allen anderen Menschen schadet. Nicht jede Männlichkeit ist toxisch. Aber manche eben schon. Diese werden eben deshalb auch toxische Männlichkeit bezeichnet. Wäre alles daran toxisch, müsste man nicht erst einen Begriff finden. (Und bitte lassen wir toxische Weiblichkeit außen vor. Darum geht es gerade nicht und es ist auch etwas komplett anderes.)

Soziale Prägung

Zurück zum Thema! Diese dargestellten männlichen Charaktere in Serien, Filmen und so weiter prägen junge Menschen. Das ist normal und nichts, worauf wir Einfluss nehmen könnten. Vor allem nicht als Kinder. Kinder – das haben Pädagogik und Psychologie mittlerweile ziemlich eineindeutig festgestellt – saugen alles in ihrer Umgebung ein und imitieren es. Das betrifft natürlich in erster Linie Eltern, Verwandte und den inneren Kreis an Menschen. Aber es betrifft auch Figuren im Fernsehen und in Büchern.

Kleine Jungs sehen in einer Lebensphase, in der ihre Persönlichkeit noch wunderbar formbar ist, also einen regelbrechenden Timmy Turner. Mehrere Folgen am Tag und das mehrmals die Woche. Er interessiert sich nicht für die Schule, ist aufmüpfig und verstößt gegen Regeln, kommt nicht mit Mädchen klar und so weiter. Und nicht nur er. Ähnliches bis gleiches Verhalten sehen sie auch an Ben Tennyson, Danny Phantom und sogar Harry bloody Potter. Alles in allem also quasi folgende Kernaussage: Boys will be boys.

Und das ist das Problem. Denn Jungs bekommen – in erster Linie durch die Gesellschaft, aber eben auch durch Serien und Filme – vermittelt, dass dieses Verhalten völlig in Ordnung ist. Dass sie sich nicht für Bildung interessieren müssen. Dass Mädchen etwas Anderes sind als sie. Dass sie sich nicht wirklich an Regeln halten müssen. Dass es sich nur um sie dreht.

Der beste Fall

Ich weiß: Viele dieser Darstellungen haben eine verschwindend geringe Auswirkung auf ihre Entwicklung und sie verbreiten ja ohnehin nur ein Narrativ weiter, das schon vor ihnen da war. Aber selbst mit dieser Einschränkung heißt das nur, dass solche Charaktere nur einfach „nichts schlimmer“ machen. Aller-aller-aller-bestenfalls.

Das ist das soziologische Äquivalent der Person, die einer anderen beim verbluten zusieht und nicht bemüht werden kann, zu helfen. Extrembeispiel, ja, aber es läuft darauf hinaus. Auf die Aussage: Ja, aber es schadet ja auch nicht wirklich. Wollen wir uns wirklich darauf ausruhen? Rhetorische Frage. Wir müssen es gar nicht.

Machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Oder zumindest in die späten 10er-Jahre. Ich bin mittlerweile in meiner 20ern, schaue immer noch gleich viele animierte Produktion wie damals und bemerke eine Veränderung. Nicht zwingend in den erzählten Geschichten, aber dafür umso mehr in den Charakteren, um die es darin geht. Noch genauer: In den Jungs.

Heutige Jungs

Vor zehn bis zwanzig Jahren waren die männlichen Charaktere noch alles, was ich weiter oben bekrittelt habe, und ja, die gibt es heute auch noch zuhauf. Aber es sind auch neue Charaktere am Horizont aufgetaucht. Und nicht zu wenige davon.

Da wäre zum Beispiel Hiccup Haddock III, der Protagonist von Drachenzähmen leicht gemacht (1-3) und den dazugehörigen Serien. Er ist ein wissbegieriger, smarter Junge und löst seine Probleme nicht durch Draufhauen, sondern durch seinen Verstand.

Da gäbe es Eugene Fitzherbert (Rapunzel, vor allem die Serie), der aktiv über sein altes, toxisches Ich hinauswächst und demonstriert, dass Männer auch verletzlich sein dürfen, ja sogar müssen, um zu wachsen und ihre Träume zu erreichen.

Da wäre Bow (She-Ra, Netflix), der unterstützend, aufbauend und gleichzeitig wunderbar ängstlich sein kann. Außerdem trägt er sein bauchfreies Shirt mit wahnsinnig viel Stolz.

Und natürlich wäre da der großartigste Junge im Fernsehen aller Zeiten (keine statistische Grundlage): Steven Universe. Dieser leicht pummelige Junge ist nicht nur eine fiktive Übersteigerung von mir vor ungefähr 10-15 Jahren. Er ist gleichzeitig der Junge, der ich gern gewesen wäre. Er ist positiv, emotional, weint offen, ist wissbegierig und sucht offen den Kontakt zu allen Personen in der Serie. Völlig egal, welches Geschlecht sie haben. Er ist alles, was ich in Serien meiner Kindheit an Jungen vermisst habe.

Framing ist alles

Ich will damit nicht behaupten, es gäbe Jungs wie damals nicht heute auch noch. Der Unterschied ist, wie sie geframt werden. Der, in welchem Kontext sie präsentiert werden. Früher waren Jungs wie Timmy Turner Protagonisten. Ihr Verhalten war die Norm. Jungs hatten so zu sein, wie sie. Übrigens auch, wenn ihr Verhalten teilweise negative Auswirkungen hatte. Dadurch, dass alle so waren, war es „normal“, auch so zu sein und da herauszuwachsen.

Heute tauchen solche Charaktere viel öfter als schräge Sidekicks oder sogar Rivalen des Hauptcharakters auf. Snotlout und Tuffnut in Drachenzähmen leicht gemacht, oder Lars aus Steven Universe. Ihr Verhalten wird grundsätzlich als negativ dargestellt, der Held verhält sich nicht so wie sie. Der Bezugspunkt hat sich zu einem anderen Charakter verschoben.

Zu einem Typ Mann der kein Problem mit seinen Gefühlen, mit Frauen, mit Regeln und Vorsicht und Freundlichkeit hat. Dabei büßen sie aber keine Männlichkeit ein. Es ist nicht weniger männlich, wenn Steven weint, wenn Hiccup zögert, oder wenn Eugene Schwäche zeigt. Sie beschützen immer noch diejenigen, die ihnen etwas bedeuten. Sie kämpfen für ihre Ziele und ihre Familien. Sie lieben immer noch mit der gleichen Innbrunst, wenn nicht sogar mehr.

Ach, wenn …

Wäre ich fünfzehn Jahre jünger – plus-minus – dann wäre ich mit einem komplett anderen Männerbild aufgewachsen. Ich hätte mich selbst in Steven und David wiederfinden können. Ich hätte Idole in Hiccup und Bow gesehen. Und ich hätte in Eugene einen Mann gefunden, zu dem ich gern heranwachsen würde.

Aber leider bin ich das nicht. Ich musste mich damit abfinden, anders zu sein. Und das habe ich gespürt. Durch das Bild der Gesellschaft und das Verhalten der anderen Jungs. Noch heute gibt es genug Männer, die damit nicht klarkommen. Mit Offenheit und Emotionen und Vorsicht und damit, dass ich mit Frauen meist besser verstehe als mit Männern. Damals wurde ich deshalb gemobbt. Heute bekomm’ ich schiefe Blicke.

Anders wäre es mir lieber gewesen. Ich glaube nicht, dass man leiden muss, um stark zu werden. Man kann auch durch Unterstützung und Hilfe stark werden. Ich kann nur leider nicht zurück. Ich kann es nicht ändern. Aber ich kann mich freuen.

Für all die netten, braven, vorsichtigen, schüchternen, fröhlichen, wissbegierigen Jungs da draußen, die heute mit männlichen Vorbildern in Filmen und Serien aufwachsen dürfen. Und für mich. Ich bin schließlich auch noch immer so und schaue sie weiter brav.

Und ich habe aus den Fehlern anderer gelernt. Mein Debütroman „Ein Alchemist, ein Stein und ein Strauß Blumen“ hat deshalb nicht nur einen möglichst diversen Cast, sondern ist auch voller Männer, die ich als Kind gern gesehen und gelesen hätte. Mein Hauptcharakter Gundar Orkenschlächter ist alles, was ich immer sehen wollte. Er ist klug, schüchtern, emotional und so vieles, was Männer doch eigentlich nicht sein sollten. Und ja: Der Name passt nicht.


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