Lilo & Stitch
Heute einen vielleicht ungewöhnlichen Beitrag für diesen Blog, aber es gibt einfach etwas, das ich loswerden will: Lilo & Stitch ist mein absolut liebster Disney-Film. Ich gehe sogar soweit und würde es als einen der besten Disney-Filme bezeichnen. Und wenn ihr den Film noch nicht gesehen habt, tut es.
Disney und ich
Vielleicht fange ich diesen Beitrag mit einer kleinen Anmerkung an: Ich habe schon seit langer Zeit meine Probleme mit Disney Animation. Während ich die neueren Filme (seit „Wreck-It Ralph“) okay finde, hat mich schon als Kind die Rolle von weiblichen Figuren in diesen Filmen gestört. Und während ich weiß, dass einige Leute, die an den Filmen hängen, dazu neigen, diese Darstellung immer irgendwie schön zu reden (soweit gehend, dass Leute Kritik an Cinderella als „Victim Blaming“ bezeichnen) … ne, ich konnte damit nichts anfangen. Ausnahme waren immer die Tierfilme.
Später kam dazu dann eben die Erkenntnis, wie furchtbar, furchtbar weiß diese Filme doch sind. Und wie oft sie mit einer sehr respektlosen Art der kulturellen Aneignung einher gehen. Hier liegt noch ein Beitrag über Pocahontas auf meiner Festplatte herum, den ich vielleicht irgendwann einmal veröffentlichen werde – denn der Film ist diesbezüglich wahrscheinlich der schlimmste Kandidat.
Und genau da kommt Lilo & Stitch ins Spiel, denn der Film ist dahingehend … interessant. Denn ja, auch der Film ist voller kultureller Aneignung – doch anstatt eine Geschichte zu erzählen, wie super weiße Menschen mit der indigenen Bevölkerung von Hawai‘i auskommt, tut der Film das genaue Gegenteil.
Worum geht es in Lilo & Stitch?
Für die Leute, die diesen Film noch nicht kennen: Lilo & Stitch handelt von Lilo, einem einsamen, kleinen Mädchen auf Hawai‘i, dessen Eltern vor kurzen bei einem Autounfall ums Leben kamen. Seither kümmert sich ihre ältere Schwester Nani um sie. Allerdings ist Lilo kein einfaches Kind und das Jugendamt will sie fortnehmen – nicht nur fort von ihrer Schwester, sondern auch fort von Hawai‘i. In der Hoffnung Lilos Gemüt etwas zu zäumen holt Nani ihr ein Hund aus dem Tierheim – nur dass der Hund, den Lilo sich aussucht eigentlich ein Alienexperiment ist, das dazu programmiert wurde, die Zivilisation zu zerstören. Lilo nennt ihren „Hund“ Stitch und bringt ihre Schwester mit ihm in neue Probleme, da Stitch von der galaktischen Föderation gesucht wird.
Themen
Das ist zumindest der oberflächliche Inhalt des Films. Thematisch geht es jedoch um viel mehr. Denn der Film dreht sich inhaltlich um Familie, Zugehörigkeit, Einsamkeit, aber auch um, nun, Kolonialismus – selbst wenn dieser enorm unter einigen Metaphern versteckt ist. Da allerdings die Folgen des Kolonialismus im Film so oder so deutlich zu spüren sind, ist es als erwachsener Mensch schwer zu ignorieren.
Außerdem geht es um das „Anders sein“ in allerweitesten Sinne. Lilo ist anders, als die anderen Kinder. Stitch ist anders als jedes existierende Wesen. Lilo und Nani sind anders, als die Touristen, die nach Hawai‘i kommen und die immer wieder eine große Rolle im Hintergrund des Films spielen – und in einigen geschnittenen Szenen noch mehr spielten.
Die Geschichte von Hawai‘i
Was man bei Hawai‘i bedenken sollte: Die Inseln wurden sehr, sehr spät von weißen Amerikanern annektiert. Erst 1896 wurde Hawai‘i Teil der USA, nachdem 1893 Königin Lili‘uokalani entmachtet wurde. Danach war Hawai‘i 60 Jahre lang ein „US-Territorium“, wurde also nicht als Staat der vereinigten Staaten anerkannt und hatte dadurch mit ähnlichen Problemen zu kämpfen, wie Puerto Rico heutzutage. Mittlerweile ist Hawai‘i ein Staat, doch das heißt nicht, dass die Probleme aufgehört haben.
Denn nach wie vor hat die indigene hawai‘ianische Bevölkerung damit zu kämpfen, dass Orte von kultureller Signifikanz einfach von irgendwelchen reichen Leuten, die gerne ein Ferienhaus in Hawai‘i hätten, aufgekauft und überbaut werden. Zuckerbergs lächerlich riesiges Anwesen steht bspw. ebenfalls auf solchem Land.
Und wie viele indigene Bevölkerungsgruppen in den USA und anderswo, gibt es auch andere Probleme. Zu denen gehören unter anderem eben auch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus ihren Familien genommen werden, weitaus höher ist, als in anderen Bevölkerungsgruppen. Etwas, das eben in diesem Film eine große Rolle spielt. Wären Lilo und Nani weiß, wäre die Chance deutlich größer, dass das Jugendamt da wäre, um ihnen zu helfen – nicht um sie zu trennen.
Nani & Lilo
Nani ist mit Lilo überfordert. Natürlich ist Nani mit Lilo überfordert. Denn Lilo ist ein sehr spezielles Kind (dazu gleich noch mehr) und braucht bestimmte Zuwendung, während Nani erst 19 ist. Außerdem hat keine der beiden Schwestern soweit den Tod der Eltern gänzlich verkraftet – etwas, das zu extremeren Reaktionen bei Lilo zu führen scheint.
Lilo gerät auch immer wieder mit anderen Kindern aneinander, was wahrscheinlich einer der Gründe ist, warum das Jugendamt vorbeikommt. Das und natürlich die Tatsache, dass Nani keinen wirklichen Abschluss abseits der Schule hat und ihr damit ein guter Job fehlt, um Lilo zu versorgen. Immerhin kann sie es sich nicht erlauben Universität oder College auf einer anderen Insel oder dem Festland zu besuchen, während sie sich um Lilo kümmert – ist damit aber auf das ungelernte Jobangebot auf Hawai‘i beschränkt. Wohlgemerkt auch nicht auf der großen Insel Hawai’i, sondern auf der Nebeninsel Kauai, wo es (wie der Film schon sagt) keine richtigen Städte gibt und Einkommen vor allem an Landwirtschaft und Tourismus hängt.
Das und die ganzen durch Stitch verursachten Probleme sorgen dafür, dass der Jugendamtmitarbeiter beschließt, Lilo fortzunehmen. Als Nani versucht dies Lilo zu sagen, singt sie mit ihr „Aloha ‚Oe“ – ein Lied, dass Königin Lili‘uokalani als Abschied von ihrem Volk zu ihrer Entmachtung geschrieben hat und das auch zu ihrer Beerdigung gespielt wurde. Sprich: Es ist ein Abschiedslied.
Und es bleibt natürlich zu sagen: Abseits von den Problemen, die durch Stitch verursacht werden … würde man versuchen Lilo wegzunehmen, wären sie und Nani ein weißes Schwesternpaar?
Aliens & Touristen
Es ist in diesem Kontext sicher kein Zufall, dass Lilo im Finale des Films von einem „Alien“ entführt wird. Immerhin war das Wort „Alien“ nicht immer für Außerirdische besetzt gewesen.
Es sei allerdings auch auf die Parallelen unser beiden Aliens, die Stitch verfolgen, und den Touristen, die permanent im Hintergrund des Films auftauchen, erwähnt. Auch dahingehend ist der Film nicht sehr subtil: Denn diese beiden Aliens verhalten sich und kleiden sich wie Touristen – der eine an der „fremden Natur“ interessiert, der andere nur scharf darauf sein Ziel mit Gewalt zu erreichen. Keiner von beiden wirklich geneigt abseits ihrer Regeln Rücksicht auf die Menschen zu nehmen. Immerhin erfahren wir auch, dass der einzige Grund, warum die Erde nicht zerstört wurde, war, dass man Moskitos schützen wollte. Die weiter entwickelten Lebensformen (Menschen) scheinen egal, wie eben auch im Kolonialismus und bis heute im Tourismus meist Wildnis und vielleicht noch Bauwerke interessanter sind, als die dort lebenden Menschen.
Es sei aber auch Lilos Verhältnis zu den Touristen erwähnt. Denn wir sehen immer wieder eine von den Touristen faszinierte Lilo. Sie macht immer wieder Fotos von Touristen – doch gleichzeitig sieht sie diese kaum als „normale Menschen“. Etwas, das allerdings durch das Verhalten der Touristen kommt.
Im Film gibt es eine geschnittene Szene, die ihr hier ansehen könnt. In der Szene sehen wir den Umgang der Touristen mit Lilo und wie diese sich mit einem Streich rächt. Dies war ursprünglich an der Stelle von Stitchs Ausbruch am Strand und endete mit Lilo, die dem Jugendamtmitarbeiter Bubbles gegenüberstand und sagte: „Würdest du hier leben, würdest du das verstehen.“ Etwas das im Kontext klar zu verstehen ist.
Lilo als autistisches Kind
Der Umgang mit dem Thema Hawai‘i ist, warum ich den Film allgemein für gut halte – gerade da er für Disney-Verhältnisse sehr kritisch gegenüber dem Kolonialismus ist. Doch der Grund, warum ich den Film liebe ist Lilo. Denn auch wenn es weder via Word of God noch im Text explizit gesagt wird: Ich bin mir sehr, sehr sicher, dass Lilo autistisch ist.
Und genau dadurch finde ich mich in der Situation von Lilo sehr wieder. Denn Lilo zeigt so, so viele Anzeichen eines autistischen Mädchens – wahrscheinlich eines Mädchens mit Asperger Syndrom. Sie hat deutliche Probleme andere Menschen zu lesen, bekommt sehr plötzliche und extreme Wutanfälle, scheint auch soziale Konsequenzen nicht einschätzen zu können, hat diverse Spezialinteressen und hat eine blühende, aber für andere schwer nachvollziehbare Fantasie. Letzteres scheint soweit zu gehen, dass sie diese Fantasie für die Realität hält, wie wir am Beispiel von Pudge dem Fisch sehen.
Sehen wir es durch diese Linse macht viel von Lilos Verhalten auch mehr Sinn – und es ist eben auch anzumerken, dass es umso schwerer für sie wäre, in eine andere Familie zu kommen. Denn autistische Kinder tun sich häufig schwerer mit einer solchen massiven Änderung umzugehen, als es ohnehin schon ist. Besonders wenn wir den kulturellen Schock bedenken.
Königin Lili‘uokalani
Was sich zudem noch feststellen lässt: Man kann nicht ignorieren, dass der Film immer wieder auf Königin Lili‘uokalani verweist. Das fängt bereits im Eröffnungssong („He mele no Lilo“), bei dem es sich um eine abgewandelte Version des Liedes „Mele inoa no Kalakaua“ handelt – eine Hymne auf die Königsfamilie zu der auch Lili‘uokalani gehört. Sie wird auch in „He mele no Lilo“ namentlich, zusammen mit ihrem Bruder, erwähnt. Sofern ich nicht irre, handelt es sich bei dem Strand, an dem Lilo zu beginn schwimmt, auch um einen Strand, der nach Königin Liliʻuokalani
benannt wurde. Nehmen wir „Aloha ‚Oe“ hinzu, ein Lied, dass sie als Abschied zu ihrem Volk geschrieben hat, gibt einen weiteren Hinweis auf sie. Genug, als dass man davon ausgehen kann, dass es beabsichtigt ist.
Und damit kommen wir wieder auf das zurück, worüber ich zu Beginn gesprochen habe: Die Geschichte Hawai’is. Königin Lili‘uokalani war die letzte Königin Hawai’is, ehe die Monarchie gewaltsam abgeschafft und das Land eingenommen wurde. Sie verbrachte einen guten Teil ihres Lebensendes unter Hausarrest, obwohl sie eine sehr geliebte Königin unter den Bewohnern Hawai’is war.
Nehmen wir noch hinzu, dass Lilo unter anderem als „Verloren“ übersetzt werden kann, legt der Film die Interpretation nahe, dass der Film konkret, wenngleich symbolisch von der Annektierung Hawai’is handelt. Durch den amerikanischen Staat, der als eine fremde Macht einfällt. Dabei steht eben Lilo wahlweise für das Volk oder die Unabhängigkeit. Nur, dass es natürlich im Film hier ein Happy End gibt …
Der beste (?) Disney-Film
Was ich mit all dem sagen will: Lilo & Stitch ist ein verflucht guter Film, der mit erstaunlich viel Respekt mit dem Thema umgeht. Er ist mir auch sehr wichtig, da er für mich eins der wenigen Beispiele mit Autismus-Repräsentation darstellt, ohne direkt aus Autist*innen Bösewichte oder Supergenies zu machen – selbst wenn es nicht explizit gesagt wird.
Vor allem aber wollte ich über den Film reden, da er einfach so viele Themen einbringt, die mir wichtig sind. Sei es Dekolonialisierung, sei es Repräsentation von Autismus, selbst wenn diese nicht explizit ist.
Dieser Beitrag lag nun ewig auf meiner Festplatte herum, doch die Diskussion über den Film in den letzten Tagen auf Twitter hat mich dazu veranlasst, ihn endlich zu posten.
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