Dekolonialisierung der Phantastik: Die Romantisierung des Mittelalters

Es gibt viele Dinge, die direkt oder indirekt mit kolonialem Denken zu tun haben. Oft sind wir uns dessen nicht einmal bewusst. Heute möchte ich auf ein klassisches Beispiel aus der Fantasy eingehen, das einer der Hauptgründe ist, warum ich selbst mich häufig schwer mit der „High Fantasy“ oder „Epischen Fantasy“ tue: Das „mittelalterliche“ Setting.

Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Dekolonialisierung der Phantastik. Mehr über die Reihe erfahrt ihr in der Einleitung, in der ihr auch eine Übersicht der anderen Beiträge findet.

Einleitung

Das Mittelalter beschreibt einen Zeitraum in Europa, der sich grob vom 5. bis zum 15. Jahrhundert erstreckt. Sprich: Es war eine Epoche, die über knapp 1000 Jahre anhielt und sich daher natürlich auch in bestimmte Unterepochen aufteilen lässt. Wer heute an diese Zeit denkt und kein*e Historiker*in ist, denkt wahrscheinlich an Burgen und an Ritter, die in voller Plattenrüstung auf Pferden durch die Gegend galoppieren. Vielleicht denkt man auch an Met oder an Wikinger und vielleicht auch an Könige, europäische Königreiche und das einfache Bauernvolk.

Diese Aspekte nehmen häufig einen Einfluss auf Fantasy, spezifisch das Subgenre der High Fantasy. Sprich: Fantasy, das in einer eigenen Welt spielt. Denn diese eigenen Welten bauen häufig – sehr häufig – auf solchen Ideen des Mittelalters auf. Es gibt edle Ritter und weise Könige und im Hintergrund laufen ein paar Bauern rum. Egal ob Herr der Ringe oder Game of Thrones: Entsprechende Tropes und Ideen spielen immer wieder eine Rolle in solcher Fantasy. Mal blutiger und düsterer, mal eher hoffnungsvoll und phantastisch ähnelt sich der Hintergrund doch häufig.

Allerdings sind viele Ideen des Mittelalters nicht nur allgemein romantisiert, sondern auch durch den Kolonialismus und koloniales Denken verzerrt worden.

Warum eigentlich Mittelalter?

Doch fangen wir mit einer grundlegenden Frage an: Warum ist das Mittelalter eigentlich ein so häufiges Setting für High Fantasy? Hier kann man viel spekulieren, doch liegen zwei Vermutungen nahe: Die mythitisierte Romanze des Mittelalters und Herr der Ringe.

Liest man phantastische Geschichten, die vor Herr der Ringe herauskamen, so findet man häufig ebenfalls mittelalterlich angehauchte Welten – allerdings ebenso Welten, die durch die Antike oder der zur damaligen Zeit jüngeren Geschichte inspiriert wurden. In diesen meist Pulp-Geschichten, die im Mittelalter spielen, ist häufig der zentrale Charakter ein Ritter irgendeiner Art. Und es ist nicht schwer zu sehen, woher diese Idee kommt. Immerhin gibt es genug Sagen aus dem Mittelalter, in denen Ritter gegen mystische Kreaturen wie Drachen kämpfen. Das ist eine unserer Standardvorstellungen des Mittelalters. Und sobald Drachen oder Zauberer vorkommen, können wir von Fantasy sprechen. Diese Vorstellung der mittelalterlichen Welt, als eine Welt, die ohnehin bereits von Sagenfiguren bewohnt wird, verleitet nun aber dazu phantastische Geschichten in dieses Setting zu verlegen.

Genau so wurde J. R. R. Tolkien sicher auch von dieser Vorstellung dazu inspiriert, seine Sagenwelt auf dem technischen Stand des Mittelalters aufzubauen. Immerhin war eins seiner Ziele eine Sagenwelt für das mittelalterliche England, das selbst wenig Mythologie besaß, zu erschaffen. Dass er dadurch praktisch das „Standardwerk“ der kommenden Fantasy bauen würde, konnte er nicht ahnen. Und Herr der Ringe ist die Inspiration von viel Fantasy, das danach kam, geworden. Inklusive der großen Rollenspielwerke, wie Dungeons & Dragons, die ihrerseits ebenfalls viele Autor*innen inspirierten. Es ist insofern keine Überraschung, dass Tolkiens Setting einer quasi mittelalterlichen Welt mit Zwergen und Elfen so dominant in der Phantastik ist.

Doch nur weil es nicht verwunderlich ist, so heißt es nicht, dass es keine Probleme mit dem Vorherrschen dieser bestimmten Mittelalterdarstellung und den damit verbundenen Konnotationen gibt.

Europa als Standard

Das erste Problem fängt allgemein mit unserer Betrachtung des Mittelalters oder eher des Zeitraums des Mittelalters an. Ja, der Begriff „Mittelalter“ bezieht sich allgemeinhin nur auf diesen Zeitraum in Europa – doch es ist nicht so, als hätte nicht auch während diesem Zeitraum eine Welt außerhalb von Europa existiert.

Tatsächlich ist es selbst mit Europa so, dass in vielen Erzählungen – beispielsweise auch in der Schule – Teile Europas ausgelassen werden. Fast der gesamte Skandinavische Bereich wird nur insofern erwähnt, dass „Wikinger“ halt hier und da an den Küsten geräubert haben. Finnland wird, genau so wie die Balkanstaaten komplett aus der Erzählung rausgelassen. Selbst Russland spielt nur dann eine Rolle, wenn es einen Konflikt mit einer zentraleuropäischen Nation gab.

Der Rest der Welt spielt in vielen Darstellungen gar keine Rolle. Nicht einmal die Teile, die tatsächlich Handelsbeziehungen zu den europäischen Mächten hatten. Eventuell gibt es ein Bewusstsein für das ottomanische Reich im späten Mittelalter und vielleicht reden wir über den nahen Osten im Bezug auf die Kreuzzüge. Doch davon abgesehen ist Asien in den meisten Darstellungen beinahe unsichtbar – Afrika ebenso. Gerne wird auch so getan, als wären Australien, die Amerikas und die pazifischen Inseln erst mit ihrer „Entdeckung“ durch Europäer auf der Welt erschienen. Dass sich auch hier Geschichte während derselben Zeit abspielte, wird gerne komplett ausgelassen.

Entsprechend ist es vielleicht kaum überraschend, dass es in phantastischen mittelalterlichen Welten selten andere Kulturen abseits des Pendants zu Europa gibt. Entweder ist dieses Pendant durch Meer zu allen Seiten oder durch verdächtig gradlinige Gebirge vom Rest der Welt – sollte dieser überhaupt existieren – abgeschlossen. Die Idee, dass es eine Welt außerhalb des „Vertrauten“ gibt, wird praktisch von Grund auf ausgeschlossen.

Der kolonialistische Gedanke

Dieses Denken von Europa als Standard, ist auch als „Eurozentrismus“ bekannt. Eine häufige Erwiderung auf diese Kritik der eurozentrischen Geschichtsbetrachtung ist: „Aber wir sind in Europa. Natürlich ist die europäische Geschichte für uns die wichtigste.“ Doch dies verkennt zwei Dinge: Zum einen, dass auch viele der ehemaligen Kolonialgebiete ein Curriculum haben, dass sehr eurozentrisch ist. Zum anderen, dass es auch für uns wichtig wäre zu verstehen, dass es außerhalb von Europa Geschichte gab, die zum Teil uns beeinflusst hat.

Doch der Eurozentrismus endet nicht nur bei der Betrachtung von einer vornehmlich europäischen Geschichte, sondern geht weiter. Denn es ist zumindest in der Populärdarstellung von Geschichte so, dass der Fortschritt anderer Kulturen an Europa gemessen wird. Das heißt, Kulturen werden effektiv in steinverarbeitende Kulturen, Bronze-, Eisen- und Stahl-Kulturen eingeteilt – natürlich immer mit der Annahme, das alle hinter Europa zurückgeblieben waren. Dabei wird jedoch übersehen, dass diese Annahmen zum einen immer auch Waffenbau implizieren. Dies war jedoch bei weitem nicht für alle Kulturen so relevant, wie in Europa. Auch die Tatsache, das bestimmte notwendige Metalle nicht überall verfügbar waren, wird außen vor gelassen.

Vor allem aber setzt diese Einteilung in „fortschrittliche“ und „rückschrittliche“ Kulturen abhängig letzten Endes davon welche Waffen genutzt wurden voraus, dass alle Aspekte einer Kultur sich parallel zu Europa entwickeln. Was das heißen soll? Nun, zum Beispiel ist eine klassische Darstellung, dass eine Kultur keine Demokratie entwickeln kann, bevor sie nicht mindestens den technischen Stand der Antike erreicht hat. Ein anderes Beispiel wäre die Annahme, dass Kulturen, die keine moderne Technologie haben, keine Anerkennung für Frauen oder queere Menschen haben können. Dinge, die so nun einmal nicht stimmen und, wie bereits ausgeführt, vornehmlich auf koloniale Darstellungen zurückgehen.

Als alle weiß waren

Ein anderer Aspekt des Mittelalters, der vornehmlich durch die Kolonialzeit so mythologisiert wurde, ist die Weißheit des europäischen Mittelalters. Jeder, der in eine Diskussion zum Thema „historische Korrektheit“ involviert war, kennt es bereits: Die Behauptung, dass im Mittelalter alle weiß waren – unabhängig davon, dass das Konzept von „weiß“ damals so nicht existierte. Doch die Diskussion kennen viele auch aus der Phantastik. „In dieser mittelalterlichen Fantasy-Welt gibt es keine BI_PoC, weil das wäre ja nicht historisch korrekt.“

Die Sache ist nur, dass es BI_PoC auch im europäischen Mittelalter gab. Zum einen, weil es indigene Gruppen gibt, die in Europa heimisch sind. Zum anderen, weil diverse Gruppen in Europa lebten. Dies kam zum einen durch Handel zustande – womit wir bei einem der Gründe sind, warum es so wichtig ist, auch über die Verbindungen Europas zu nicht-europäischen Ländern zu lernen. Es gab Handelsbeziehungen zum asiatischen, arabischen und nordafrikanischen Raum. Und natürlich kam es vor, das Handelsreisende blieben. Genau so gab es auch Korrespondenten für Herrscher anderer Länder, die hier lebten. Ebenso lebten Soldaten und ihre Familien, die in der römischen Armee gewesen, aber aus Nordafrika kamen, über die ehemaligen römischen Kolonialgebiete verteilt.

Es ist schwer zu sagen, wie viele nicht-weiße Menschen im Mittelalter in Europa gelebt haben. Wie gesagt: Das Konzept „weiß“ existierte in dem Sinne nicht, ebenso wenig das Konzept „schwarz“ oder „asiatisch“. Entsprechend können wir dergleichen aus geschichtlichen Dokumenten nicht herauslesen. Doch wir wissen, dass es nicht-weiße Menschen in Europa der Zeit gab.

Diese Auslöschung nicht-weißer Identitäten aus der Geschichte des Mittelalters hängt teils mit kolonialistischer Geschichtsrevisionierung zusammen. Doch größtenteils ist diese Revisionierung noch jünger, doch natürlich durch Kolonialismus beeinflusst. Denn eher recht „moderne“ rassistische Bewegungen haben Interesse daran, eine europäische nationale Identität zu erschaffen, die vollkommen weiß ist.

Zwei extreme Betrachtungen

Viele haben ein verklärtes Mittelalterbild. Und das ist nicht nur der rechten Szene zu eigen. Dabei kommen wir wieder zu Darstellungen des Mittelalters in der Schule. Diese sind nicht überall gleich, doch selbst kann ich mich noch an die bereits eingangs angesprochene Darstellung erinnern: Ritter, Ritterturniere, Könige, Burgfräuleins und das Bauernvolk. Wir haben später noch ein wenig über Agrartechnik gesprochen und natürlich über Freibriefe und Luther. Doch abseits davon gab es wenig Mittelalter in der Schule – und das frühe Bild mit Rittern und Burgfräuleins ist nicht wirklich historisch.

Doch viele haben eine verzerrte Vorstellung des Mittelalters, die nicht zuletzt auf zwei entgegengesetzte revisionistische Ansätze zurückgeht: Die des „dunklen Mittelalters“ und die des romantisierten Mittelalters. Das „dunkle Mittelalter“ ist die Darstellung des Mittelalters als ein 1000jähriger Abschnitt ohne Fortschritt, in der die meisten Leute in absoluter Armut hundsmiserabel lebten, Frauen komplett unterdrückt waren und alle Menschen feindlich gegen alles waren – auch gegen Wissenschaft. Dagegen haben wir die romantisierte Darstellung des Mittelalters. Hier werden mittelalterliche Ideale der Ritterlichkeit in den Vordergrund gerückt, das einfache Volk lebt frei und gut und eventuell sind die Könige und Landsherren größtenteils natürlich edelmütig.

Natürlich stelle ich beides übertrieben dar, doch die meisten werden wissen, welche Darstellungen ich meine. Beide Darstellungen sind nicht korrekt, doch beeinflussen beide auf gewisse Art die Phantastik. Während die „dunkles Mittelalter“ Darstellung ihren Einfluss auf Dark Fantasy à la Game of Thrones haben, ist die romantische Darstellung ein Einfluss auf diverses High Fantasy, inklusive „Herr der Ringe“, das von einer großen Mittelalter-Nostalgie geprägt ist.

Natürliche Entwicklungen vs historischer Kontext

Zuletzt möchte ich auf einen Mythos eingehen, der eng mit den genannten Dingen zusammenhängt. Dieser Mythos besagt, dass es eine „natürliche Entwicklung“ gibt, die menschliche Zivilisationen durchschreiten. Nach diesem Mythos ist es vollkommen normal, dass sich eine Antike Kultur wie Griechenland oder Rom entwickelt, diese kolonialisiert, daraus eine Kultur wie das europäische Mittelalter erwächst und aus dieser nach und nach die Moderne. Laut diesem Mythos ist alles, was die europäische Kultur ausmacht und ausgemacht hat, „natürlich“. Sexismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit inklusive. Genau deswegen ist es in dieser Denkweise auch gerechtfertigt andere Kulturen in ihrer Entwicklung im Vergleich zu Europa zu bewerten.

Das Problem dabei ist nur: Europa hat sich entwickelt, wie sich Europa entwickelt hat, aufgrund der Voraussetzungen, die es in Europa gab. Kulturen entwickeln sich unter anderem abhängig von den Ressourcen, auf die sie zugriff haben. Und die Kulturen, die sich entwickeln, werden unter anderem voneinander auch beeinflusst. Das Mittelalter wäre ohne die Antike vollkommen anders gewesen. Die kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen, die sich in der Antike entwickelt haben, hatten Einflüsse auf alle kommenden europäischen Gesellschaften. Genau so wäre Europa nicht Europa, hätte sich das Christentum hier nicht verbreitet. Ähnlich sieht es mit anderen Ländern und ihren vorherrschenden Religionen aus.

Keine Gesellschaft auf der Welt, kann als Schablone für andere Gesellschaften hergenommen werden. Jede ist durch eigene Voraussetzungen durch Vorgeschichte, Klima und Ressourcen geprägt.

Fazit

Wenn es um das Mittelalter und seine Darstellungen spezifisch in der Phantastik geht, so haben wir einige Probleme. Diese gehen zum einen auf eine allgemein wenig historische Darstellung in Medien und teilweise auch in den Schulen zurück, zum anderen aber auch auf eine eurozentrische Weltsicht. Das Mittelalter beschreibt nicht nur einen Zeitabschnitt, sondern Europa während diesem Zeitabschnitt. Dabei wird allerdings oftmals nicht bedacht, inwieweit Europa von seinen angrenzenden Kontinenten und den Kulturen, die dort lebten, beeinflusst wird.

Eins der größten Probleme dabei ist, dass die Entwicklung von Kulturen, bewertet wird, als wäre Europas Entwicklung „natürlich“ und vor allem „natürlicher“ gewesen, als die außereuropäischer Gesellschaften. Dies ist auch etwas, dass die Phantastik propagiert, indem sie Gesellschaften darstellt, die mit vollkommen anderen Einflüssen doch mit einer pseudo-mittelalterlichen Gesellschaft enden, als wäre dies unausweichlich. Diese eurozentrische und euronormative Darstellung ist ein Aspekt, der eng mit dem Kolonialismus zusammenhängt.

Ein ebenfalls sehr problematischer Aspekt moderner Mittelalterdarstellungen, ist dass das Mittelalter als eine rein weiße, heterosexuelle Gesellschaft dargestellt wird. Historisch begründete Argumente, dass es nicht-weiße Menschen, genau so wie offen homosexuell lebende Personen gab, werden oft ignoriert. Ideen, die im Spätmittelalter fußen, werden häufig auf die 1000jährige Geschichte des Mittelalters ausgeweitet.

Das Mittelalter war, wie jedes andere weitläufige Zeitalter, nicht homogen. Menschen lebten abhängig von Zeit und Ort unterschiedlich. Es wäre wünschenswert, wenn wir dies stärker in modernen Darstellungen – fiktional oder nicht – reflektiert sehen würden.


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