Tokenismus

Leider sehe ich online immer wieder Leute, die andere mit dem Vorwand, das bestimmte Charaktere „Token“ seien, davon abhalten wollen, diverse Settings zu schreiben. Deswegen heute ein Beitrag zum Thema Tokenismus, was Tokens sind, wann sie warum schlecht sind und wie sie bestimmte andere Tropes schlimmer machen.

Tokenismus

Das englische Wort „Token“ lässt sich auf mehrere Arten übersetzen. Es kann „Wertmarke“ bedeuten oder eine Markierung in einem Spiel. Es kann „Kürzel“ bedeuten. Oder „Merkmal“. Doch alle Bedeutungen gehen auf eine grundlegende Idee zurück: Ein Token ist ein simples Konstrukt, das viel repräsentieren soll. Es vermittelt eine Idee auf eine sehr simple Art und Weise. Und genau so wird das Wort im medienkritischen Kontext gebraucht.

Ein „Token Charakter“ ist ein Charakter einer bestimmten Gruppe, die ansonsten keine oder kaum Repräsentation in einem Werk erfährt. Dabei ist es egal, ob dieses Werk Film, Buch, Serie, Comic oder Videospiel ist. Der Token Charakter ist das Token, das Sinnbild, das eine komplexere Sache wiedergeben soll. Bekannte Token-Charaktere sind natürlich der „Token-Schwarze“ oder der „Token-Schwule“, die jeweils oft BIPoC und die LGBTQ* Community allgemein repräsentieren sollen. Doch es gibt auch andere Tokens. Immer mal wieder gibt es einen „Token-Armen“, also einen einzelnen Charakter der in einer Geschichte voller Mittel- und Oberschichtscharaktere aus einem eher armen Verhältnis kommt. Und natürlich gibt es auch den „Token-Behinderten“. Und warum ich im generischen Maskulinum schreibe? Na, weil es oft genug auch das „Token-Chick“, auch „Smurfette“ genannt, gibt. Die eine Frau in einer Geschichte voller Kerle. Und da Tokens nicht mehr als ein Token gleichzeitig sein dürfen, ist diese Frau natürlich weiß und hetero und ablebodied.

Dass diese Charaktere Token sind, heißt übrigens nicht zwangsläufig, dass wir gar keinen anderen Charakter ihrer Gruppe sehen. Es bedeutet nur, dass sie die Charaktere sind, die ihre Gruppe recht allein repräsentieren müssen. Manchmal zu zweit. Aber dennoch in einer absoluten Minderheit.

Wozu ein Token?

Jetzt ist aber die erste Frage: Warum gibt es überhaupt diese Token-Charaktere? Sie wirken oftmals irgendwie deplatziert, selbst wenn man sich als Marginalisierte*r vielleicht freuen mag, zumindest durch eine Person repräsentiert zu werden. Und ja, damit haben wir schon einmal Grund 1, warum gerade bei größeren Projekten Produzenten Tokens einbringen: Um sagen zu können, dass sie doch eine diverse Show hätten und ja ganz viele Gruppen repräsentiert haben.

Dies mag nicht immer aus einer zynischen Einstellung herauswachsen – tut es jedoch oft genug – sondern entsteht manchmal auch aus dem gut gemeinten Wunsch, über ein Thema sprechen zu wollen. Man will über Polizeigewalt gegen Schwarze sprechen, aber das ganze Cast ist weiß? Dann lasst uns einen schwarzen Token reinbringen! Wenn wir schon dabei sind, können wir so auch noch Rassismus allgemein ansprechen. Das ist Grund Nummer 2.

Böser gesagt ist es aber eben auch ein Zeichen davon, dass der Standard-Charakter eben meist ein weißer, mittelständiger, cishetero, ablebodied Mann ist. Und sich diverse Autor*innen, da es so ein Standard ist, innerlich dagegen sträuben, das Cast wirklich divers zu machen. Aber ein wenig Diversity braucht man, also wird der Charakter einzeln reingebracht. Das Token ist letzten Endes ein Zeichen dafür, dass es einen Standard-Charakter gibt. Denn sonst wäre es nicht nötig. Grund Nummer 3.

Und am wirklich miesen Ende gibt es Grund 4: Wenn ein weißer, cishetero, männlicher Charakter rassistische, queermisische oder sexistische Witze macht, dann kommt das ja doof. Macht aber ein schwarzer Charakter die rassistischen Witze, ein schwuler Charakter die queermisischen und eine Frau die sexistischen Witze ist es ja okay. Oder? ODER?! Nun, zumindest ist das eine weitere Idee, die dahinter steht, wenn Autor*innen nicht verstehen, dass es nicht gut kommt, wenn sie Witze über Dinge machen, die sie nicht betreffen – und dass die Eigenschaften des Charakters es nicht ändern.

Warum sind Tokens schlecht?

Wer ein wenig Empathie hat – oder auf irgendeine Weise selbst betroffen ist – sollte schon sehen, warum Tokens ein Problem darstellen. Zum einen weil Grund 4 natürlich einfach nicht stimmt. Nur weil man einem Charakter eine Eigenschaft gibt, die man selbst nicht hat, sind Witze über eine Gruppe nicht magisch okay. Zumal aus eigener Erfahrung: Ja, innerhalb von marginalisierten Gruppen werden Witze gemacht, die von einem Außenstehenden *istisch wären. Aber die Witze, die Außenstehende durch Tokens reinbringen sind nicht diese Witze, sondern Witze die so oder so *istisch sind.

Und auch, dass Tokens ein Zeichen für den Standard sind – die Ausnahme zu einer Regel, die in ihrer Natur eben mehr als 92% aller Menschen ausschließt – sollte kritisch hinterfragt werden. Denn die wenigstens Szenarien haben einen guten Grund so aufgebaut zu sein. Warum gibt es in einer Geschichte so wenig BIPoC, so wenig Queers oder, mal ganz simplistisch, so wenig Frauen?

Aber selbst wenn man das alles als „Ideologie“ abtut, so bleibt ein Problem: Tokens sind beinahe immer schlecht geschrieben. Warum? Weil sie eben eine bestimmte Gruppe repräsentieren sollen. Das heißt, wenn es ganz mies läuft, sind sie ein wandelndes Klischee und *Ismen werden über sie repliziert. Aber selbst wenn Autor*in darauf achtet, dann gibt es eins von zwei anderen Szenarien: Entweder soll der Charakter alle „Probleme“ einer Gruppe repräsentieren, ist zwischen all dem aber kein Charakter mehr, sondern nur ein wandelndes „XY rights matter!“ Schild. Oder di*er Autor*in will eben *Ismus vermeiden und macht den Charakter perfekt, um zu zeigen, dass alle Vorurteile mies sind und si*er diese nicht teilt. Manchmal ist es auch eine Mischung aus beidem. Doch so oder so: Es ist kein gut geschriebener Charakter.

Tokens und andere Tropes

Ein weiteres Problem ist jedoch, wenn sich Tokens mit anderen *istischen Tropes mischen. An einfachsten zu erkennen ist es, bei den „Black Guy dies first“ oder „Bury your gays“ Tropes, die effektiv sagen, dass schwarze Charaktere oder queere Charaktere eine höhere Tendenz haben zu sterben. Und das bedeutet, wenn es nur einen oder maximal zwei Token-Charaktere gibt, dass mit einem eintreffen des Tropes schnell 100% der Charaktere aus einer Gruppe sterben. Da es eben nur den einen, beerdigten Schwulen gab.

Aber auch wenn es Charaktere – bewusst oder nicht – in einen Trope fallen, der aus einem Vorurteil entstammt, ist es eben ein Problem. Der Token-Schwarze ist leicht auf die Palme zu bringen und immer sehr laut? Das heißt, alle schwarzen Figuren in der Geschichte sind „Angry Black Men“. Der Token-Asiat ist Kung-Fu-Meister mit mystischen Kräften? Großartig, alle asiatischen Figuren in der Geschichte sind „Magical Asian“ und können Kung-Fu. Der Token schwule Charakter ist verweiblicht? Also sind alle schwulen Charaktere in der Geschichte verweiblicht. Die Token-Lesbe hasst Männer und ist eine Butch? Alle Lesben sind … Ach, ich denke, das Muster sollte klar sein, oder?

Dabei ist es egal, ob sich Autor*in des negativen Stereotyps bewusst war und ob es Absicht war. Die Tatsache, dass alle Charaktere, die einer marginalisierten Gruppe angehören, einen negativen Stereotypen repräsentieren – weil es eben nur einen Charakter gibt – ist ein Problem. Da so bestehende Vorurteile weit mehr bestärkt werden, als wenn es mehrere verschiedene Figuren aus einer Gruppe gibt, von denen eine einem Klischee entspricht.

Charaktere, die keine Tokens sind

Damit kommen wir zu dem Charakteren, die keine Tokens sind. Denn das ist letzten Endes, was mich zu diesem Beitrag gebracht hat. Wenn behauptet wird, dass eine Figur oder eher ein Typ von Figur Token wäre – es aber nicht (zwingend) ist.

Hintergrund-Figuren

Hintergrund-Charaktere sind keine Tokens in irgendeinem Sinne – da sie eben nicht repräsentieren können. Dasselbe gilt für unwichtige Nebenfiguren. Existieren sie in einer Geschichte die vornehmlich Standard-Charaktere hat, können sie allerhöchstens zeigen, dass sich die Macher dessen bewusst waren, dass eine Gruppe existiert, haben aber selten auch nur Ansatzweise die Möglichkeit die repräsentative Aufgabe eines Tokens zu übernehmen. (Selbst wenn man es einigen Regisseuren wie den Russo-Brüdern nicht gesagt hat.) Existieren sie in einer Welt, wo auch ein Teil der Protagonisten zur selben marginalisierten Gruppe gehören, ist ihre Aufgabe eher zu zeigen, dass diese marginalisierte Gruppe wirklich Teil der Welt ist.

Lasst euch daher auch als Autor*innen nicht davon abhalten, zu erwähnen, dass Hintergrund-Figuren etwaig zu einer Gruppe gehören. Nein, das ist kein Tokenism im eigentlichen Sinne, selbst wenn es im Marketing eventuell so gehandelt werden kann. Es ist nur auch keine Möglichkeit Nicht-Repräsentation im Hauptcast einer Geschichte auszugleichen.

Figuren, bei denen es keine Rolle spielt

Etwas, von denen auch immer wieder behauptet wird, dass sie „Token“ seien (meist von Leuten, die generell keine Repräsentation wünschen), sind Figuren, bei denen die Marginalisierung keine Rolle in der Geschichte spielt oder zumindest nicht „problematisiert“ wird. Beispielsweise eine Figur, die einfach homosexuell ist, eine homosexuelle Beziehung führt, aber weder diskriminiert wird, noch genutzt wird, um irgendwelche Debatten einzubringen.

Ich denke hier sollte eine Sache im Kontext klar sein: Ja, solche Figuren können dann tokenistisch sein, wenn sie die einzige Figur sind, der das zugeschrieben ist – und in dem Fall kann es oft wie ein „Nachgedanke“ wirken. In dem Fall sind sie „Wir wollen unsere Marktgruppe erweitern“-Tokens.

Kommen sie aber in einer generell diversen Geschichte vor, sind sie keine Tokens. Dazu habe ich bereits häufiger geschrieben. Denn dies ist gerade als positive Repräsentation oft zu wünschen: Ein Charakter, der nicht „geothert“ wird dafür, dass er eben vom „Standardprotagonisten“ abweicht.

Tokenismus und kleine Casts

Ein zentrales Problem am Tokenismus ist letzten Endes, dass er unglaubwürdig ist. Die meisten marginalisierten Menschen haben Kontakt zu einer Community, so dass die wenigsten von ihnen allein kommen. Warm sollte der queere Charakter nur mit cishet Leuten abhängen, die sie*ihn komisch finden? Warum sollte der schwarze Charakter ausschließlich mit Weißen Zeit verbringen? Das wirkt halt oft weit hergeholt.

Das bringt uns jedoch zu einer anderen Frage: Was ist mit einem Cast, das begründet sehr klein und sehr abgeschnitten von der Umwelt ist? Als extrem, nehmen wir ein Szenario, in dem fünf Charaktere in einer anderen Welt landen, in der es keine Menschen gibt. Die Handlung spielt komplett da. Einer der Charaktere ist marginalisiert. Vielleicht ist auch nur einer weiblich. Sind sie dann Tokens?

Hier ist die Antwort halt immer recht schwer. Denn ja, eigentlich schon. Aber sie erfüllen dabei nicht zwangsweise die Aufgabe von Tokens. Denn sie sind irgendwie Tokens und fühlen sich oft genug wie welche an, selbst wenn ihr Plot nicht von ihrer Marginalisierung handelt. Das macht es oft zu einer seltsamen Form des Tokenismus.

Fantasy-Tokens

Zuletzt möchte ich einen Bereich des Tokenismus ansprechen, der keine realen Gruppen direkt betrifft – allerdings zumindest in Bezug auf die Darstellung ähnliche Probleme mit sich bringt und vielleicht auch ein wenig zeigt, warum es oft „schlecht geschrieben“ ist. Und das sind Fantasy-Geschichten mit verschiedenen Gruppen, in denen es für jede Gruppe jedoch nur einen Token gibt.

Nehmen wir uns einfach einmal Herr der Ringe, als für sich stehendes Werk: Man kann hier leicht das Argument machen, dass Gimli der Token-Zwerg ist, da er der einzige nennenswert relevante Zwerg in der Buchreihe ist. Dabei entspricht er wohl auch recht stark den Stereotypen eines Zwergs. Man kann darüber streiten, ob Legolas nicht auch der Token-Elb ist. Denn auch wenn Elben in den Nebenrollen häufiger sind, so ist er der einzige, mit nennenswertem Dialog. Dabei bin ich mir bewusst, dass Herr der Ringe etwas Sagenhaftes hat – doch es ist ein interessantes Beispiel.

Wir haben dergleichen jedoch erstaunlich häufig. Seien es Fantasy-Gruppen, die aus Token-XY (bspw. das Urban Fantasy Team aus Hexe, Werwolf und dem einzelnen guten Vampir weit und breit) bestehen, seien es SciFi-Raumschiff Crews, die von einer jeweiligen Alien-Art maximal ein Mitglied haben. Und dieses eine Mitglied wird oft einen Plot von einer von zwei Arten haben: Entweder entstammt der Charakterkonflikt daraus, dass der Charakter „anders“ als der Rest seiner Spezies und deswegen von dieser ausgeschlossen. Oder der Konflikt stammt heraus, dass die Figur als Alien in einer Menschengruppe marginalisiert ist. Manchmal auch beides.

Fazit

Tokens sind einzelne Figuren in einem Cast, die die einzige Repräsentation in einer Geschichte für eine (meist marginalisierte) Gruppe darstellen. Das heißt sämtliche Themen, die mit dieser Gruppe zu tun haben, werden über den Charakter dargestellt, was den Charakter oftmals sehr flach werden lässt, da er letzten Endes nur eine Leinwand ist, auf der Konflikte dargestellt werden. Entspricht der Charakter dabei negativen Tropes heißt es, dass 100% der Darstellung einer Gruppe von diesem Trope betroffen sind. Deswegen werden Tokens meist mit *Ismus in Verbindung gebracht.

Tokens sind darüber hinaus oft kritisch zu betrachten, da ihre Ausnahmestellung selten gut begründet ist und oftmals unglaubwürdig wirkt. Vor allem aber sind Tokens keine gute Repräsentation.

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Das Beitragsbild stammt von Pixabay